Ankaras Spielball
Berlin/Istanbul · Der Fall Yücel wird zum Symbol für das Dilemma der deutsch-türkischen Beziehungen.
Bis zuletzt hatten sie im Auswärtigen Amt und Kanzleramt gehofft, dass die Sache glimpflich enden würde. Im Laufe des Montagabend wurde aber dann doch immer klarer, dass alle diplomatischen Bemühungen um die Freilassung von Deniz Yücel gescheitert sind: Der Korrespondent der "Welt" mit deutschem und türkischem Pass muss in Untersuchungshaft. Maximale Dauer: fünf Jahre. Die Vorwürfe: Propaganda für eine terroristische Vereinigung, Volksverhetzung. Ausgang des Verfahrens: völlig offen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel benötigte nur eine Stunde, um die passenden Worte zu finden. Als "bitter", "enttäuschend" und "unverhältnismäßig hart" kritisiert sie die Entscheidung des Haftrichters. Außenminister Sigmar Gabriel macht in seiner ersten Reaktion die politische Dimension der Entscheidung deutlich. Er spricht von "schwierigen Zeiten" für die deutsch-türkischen Beziehungen und fügt hinzu: "Der Fall Deniz Yücel wirft ein grelles Schlaglicht auf die Unterschiede, die unsere beiden Länder offensichtlich bei der Anwendung rechtsstaatlicher Grundsätze und in der Bewertung der Presse- und Meinungsfreiheit haben." Der Fall Yücel ist zum Symbol für das Dilemma der deutsch-türkischen Beziehungen geworden: Eigentlich kann man nicht so richtig miteinander, man ist aber trotzdem aufeinander angewiesen - als Nato-Partner, im Kampf gegen den islamistischen Terror, in der Flüchtlingsfrage. Nicht zuletzt sind die beiden Länder über drei Millionen türkischstämmige Bürger in Deutschland untrennbar miteinander verbunden. Bisher konnte die Bundesregierung den Umgang der Türkei mit Grundwerten wie Presse- und Meinungsfreiheit noch als innere Angelegenheit betrachten. Der Fall Yücel betrifft Deutschland jetzt unmittelbar. Das gilt umso mehr, als dass Kritiker in der Türkei nicht nur die Freiheit der Medien, sondern auch die Unabhängigkeit der Justiz in Frage stellen - der Yücel nun ausgeliefert ist.
Der Journalist aus dem hessischen Flörsheim ist der erste deutsche Korrespondent, der in der Türkei in U-Haft gesperrt wird, seit Recep Tayyip Erdogan die Geschicke des Landes lenkt. Noch vor wenigen Monaten - also vor dem Putschversuch und dem von Präsident Erdogan ausgerufenen Ausnahmezustand - wäre das wohl undenkbar gewesen. Erdogan selbst war es, der Ende 2014 verkündete: "Die Medien sind nirgendwo auf der Welt freier als in der Türkei."
Diese Aussage war schon damals umstritten. Heute liegt die Türkei auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen auf Platz 151 von 180, zwischen Tadschikistan und der Demokratischen Republik Kongo. Die Liste stammt noch aus der Zeit vor dem Ausnahmezustand, unter dem die erzwungene Schließungen kritischer Medien und die Verhaftungen von Journalisten noch einmal zugenommen haben.
Bemerkenswert ist, dass Yücels Festnahme in der Regierungspresse - die ihn in der Vergangenheit etwa als "Türkei-Gegner" beschimpfte - keine Rolle spielte. Regierungsnahe Medien, von denen manche unter einer Abbildung von Kanzlerin Merkel mit Hakenkreuz kritischen Journalismus verstehen, starteten keine Hetzkampagne - weder gegen Yücel im Besonderen noch gegen deutsche Medien oder die Bundesrepublik im Allgemeinen. Der "Spiegel" meldete am Wochenende, Ankara setze auf Deutschland, um den wirtschaftlichen Niedergang des Landes zu bremsen. Vize-Ministerpräsident Mehmet Simsek sei dafür bei Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble vorstellig geworden.
Der Abgeordnete Sezgin Tanrikulu von der größten Oppositionspartei CHP sieht in der Verhaftung Yücels vor allem eine Warnung an die ausländischen Journalisten in der Türkei, sich in ihrer Berichterstattung künftig vorzusehen. Dass Yücel verhaftet worden sei, obwohl sich die Bundesregierung für ihn eingesetzt hatte, zeige, wie sehr der Einfluss Deutschlands in der Türkei geschwunden sei.
Das Problem der Bundesregierung: Alle Proteste bewirken bei der türkischen Seite nichts - und Sanktionsmöglichkeiten gibt es nicht. Bei konkreten Kooperationsprojekten gibt es keinerlei Ansatzpunkte. Das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei ist für Merkel wichtiger als für Erdogan. Mit dem vor einem Jahr abgeschlossenen Pakt steht und fällt Merkels Strategie, den Flüchtlingszuzug in die EU zu stoppen. Lediglich der türkische Botschafter wurde gestern vom Auswärtigen Amt einbestellt.
Der Einfluss der Bundesregierung auf Erdogan mag geschwunden sein. Die Solidarität für Yücel wächst dafür. So bekundeten Demonstranten in Frankfurt gestern mit einem Autokorso ihre Unterstützung für Yücel. 70 Wagen nahmen teil, in Köln waren es 50 Autos. Der Vorstandschef des Axel-Springer-Verlags, Matthias Döpfner, wandte sich unter dem Titel "Wir sind Deniz" an die Öffentlichkeit: "Da wo man Gedanken nur deshalb die Freiheit nimmt, weil sie einem nicht gefallen, tut man das früher oder später auch mit den Menschen", schrieb er.