Amerikas sanfter Extremist

Washington · Der schwarze Gehirnchirurg Ben Carson führt erstmals bei den Umfragen das Feld der republikanischen Präsidentschaftsbewerber an. Mit seinen bizarr-provokanten Thesen scheint er die Wähler nicht abzuschrecken.

Er redet meist leise, nicht so polternd wie sein derzeit schärfster Gegner Donald Trump . Er wirft nicht die Hände hoch bei seinen Vorträgen. Öffentlich Emotionen zu zeigen, ist ebenfalls nicht seine Sache. Und oft sind die Augen mehrere Sekunden lang geschlossen - was ihm von seinen Kontrahenten schon einmal den Spott bringt, einzunicken. "Wenig Energie, sehr wenig Energie" habe Ben Carson, lästerte Trump kürzlich.

Für Carson, den pensionierten Kinder-Gehirnchirurgen, dürfte es nun eine enorme Genugtuung sein, den Selbstdarsteller Trump erstmals in landesweiten Umfragen überholt zu haben - und das Feld der republikanischen Präsidentschaftsbewerber anzuführen. Das Skalpell-Genie, das 1987 erstmals am Kopf zusammengewachsene Säuglinge in einer 22-stündigen Operation erfolgreich getrennt hatte, wirkt mit seiner freundlich-sanften Art staatsmännisch. Dabei hatte der 64-jährige noch nie ein politisches Amt inne. Doch die konservativen Wähler in den USA scheinen zwölf Wochen vor dem ersten Urnengang im Bundesstaat Iowa politische Außenseiter zu bevorzugen. Und bei der dritten TV-Debatte gestern Abend in Denver hatte Carson die Chance, seinen Vorsprung noch auszubauen.

Aufgewachsen in der Automobil-Metropole Detroit als Sohn eines Fabrikarbeiters und einer Mutter, die sich nach der Scheidung mit mehreren Gelegenheitsjobs über Wasser hielt, erfuhr Carson die Härte einer Jugend in bitterer Armut. Er schaffte den Hochschulabschluss und studierte unter anderem an der Elite-Universität Yale. Als erst 33-Jähriger wurde er Direktor für Kinder-Gehirnchirurgie an der Johns-Hopkins-Klinik. Im März 2013 trat er den Ruhestand mit der Begründung an: "Es macht Sinn, dies auf dem Höhepunkt des Könnens zu tun."

Schafft er es ins Weiße Haus, wäre Carson nach Barack Obama der zweite Farbige in Folge im "Oval Office". Doch Angriffsfläche böte er genug - denn viele seiner Thesen stehen ganz im Gegensatz zu seinem abwägenden Erscheinungsbild und könnten fast schon als extremistisch gelten: Der Holocaust hätte verhindert werden können, wenn die Juden nur genug Waffen gehabt hätten. Abtreibungen dürften selbst nach Vergewaltigungen, Inzest oder bei Gefahr für die Mutter nicht vorgenommen werden. Ein Muslim dürfe nicht Präsident werden - es sei denn, dieser erkläre ausdrücklich, die Verfassung zu akzeptieren. Homosexuell zu sein, sei eine persönliche Entscheidung - denn schließlich kämen viele "normale" Männer nach einem Gefängnisaufenthalt als Schwule zurück. Und: Die Einführung der staatlichen Krankenversicherung sei das Schlimmste für die USA seit der Ära der Sklaverei.

Diese bizarr-provokanten Aussagen haben Carson zumindest bei den rechten Wählern nicht geschadet - im Gegenteil. Doch für Hillary Clinton , die sich als Vertreterin der Mittelschicht und politischen Mitte profiliert und beste Chancen auf das "Ticket" der Demokraten hat, wären sie eine Steilvorlage.

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