Vermisstensuche Wiedersehen nach 72 Jahren

Berlin · Die Wirren des Zweiten Weltkriegs hatten Günter Peleiski von seiner Familie getrennt. Der Suchdienst des Roten Kreuzes fand im Frühjahr seine Schwester.

 Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Suchdienst des Deutsche Roten Kreuzes ein Rettungsanker, um Familienangehörige wiederzufinden. Hier hält ein Archivar vom DRK-Suchdienst in München eine Karteikarte mit Fotos von Vermissten in den Händen.  

Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Suchdienst des Deutsche Roten Kreuzes ein Rettungsanker, um Familienangehörige wiederzufinden. Hier hält ein Archivar vom DRK-Suchdienst in München eine Karteikarte mit Fotos von Vermissten in den Händen.  

Foto: dpa/Marc Müller

Manchmal ist es ein einziges Telefonat, das ein Leben verändert. „Hallo, mein kleiner Bruder“, sagt Christel Ehrich am Telefon. Für Günter Peleiski ändert dieser Anruf Anfang April alles. Es ist das Ende der jahrzehntelangen Suche nach seiner Familie, nach Wurzeln. „Hallo, meine große Schwester“, antwortet er schließlich. Einträchtig sitzen die Geschwister, die einst die Wirren des Zweiten Weltkriegs trennte, nun nebeneinander. Christel Ehrich offen und redselig, mit fast 80 Jahren, Günter Peleiski zurückhaltend und abwägend, fünf Jahre jünger. „Mein Herz hat gesprochen“, sagt die Schwester. „Nun nimm nicht alles vorweg“, antwortet der kleine Bruder und wischt sich verstohlen eine Träne weg.

Die Geschwister sind ein Beispiel dafür, wie der Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes noch 72 Jahre nach Kriegsende Menschen zusammenbringen kann. 20 Millionen Namen enthält die Kartei der Vermissten und Verschollenen, und noch immer kommen jedes Jahr rund neue 8000 Anfragen dazu. Inzwischen suchen nicht nur Eltern und Kinder: Viele Nachforschungen betreiben die Enkel, denen Lücken in der Familiengeschichte keine Ruhe lassen. „Nach Weihnachten gibt es bei den Anfragen immer einen Peak nach oben“, sagt Iris Mitsostergios, Referentin beim Suchdienst in Berlin. „Gewissheit zu erlangen ist ein humanitäres Recht.“

Mitsostergios sagt auch, dass sich die Geschichte gerade wiederholt. Seit 2016 haben fast 4000 Flüchtlinge in Deutschland beim Suchdienst nach ihren Angehörigen gefragt, die durch neue Kriege, Flucht und Vertreibung verschollen sind. Seit 1945 hat es nicht mehr so viele Anfragen zur Gegenwart gegeben, wieder geht es um Eltern, Kinder und Geschwister. Was früher allen Ernstes „Karteikartenbegegnungsverfahren“ hieß, läuft heute in der digitalen Welt unter dem Stichwort „Trace the Face“ (Finde das Gesicht). Einfacher ist es nicht geworden.

Mehr als 70 Jahre lang hat Christel Ehrich geglaubt, dass ihr kleiner Bruder 1945 bei einem Bombenangriff auf Memel in Ostpreußen, dem heutigen Klaipeda in Litauen, starb. Das hatte ihr ihre Mutter so erzählt. Diese fand ihre Tochter 1945 über den DRK-Suchdienst in Mecklenburg wieder, in Lüssow bei Grimmen. Dort lebt die Rentnerin noch heute. Vier Kinder, sieben Enkel und fünf Ur-Enkel hat sie. „Im Herzen wusste ich immer, dass ich einen kleinen Bruder habe“, sagt sie. „Und ich wusste, dass er Günter heißt.“ Aber alles, was sie besaß, war eine kleine vergilbte Fotografie.

Günter Peleiski ahnte 72 Jahre lang noch nicht einmal, dass er eine Schwester hat. Er war bei Kriegsende zu klein, um seinen Nachnamen zu kennen. Nach dem Kindertransport aus Memel nach Schwarzenberg im Erzgebirge – Anfang 1945 – war den Behörden ein Fehler unterlaufen. Aus Günters Familienname Pelekies wurde Peleiski. Deshalb liefen all seine Nachforschungen ins Leere, bis er 2013 in einem Archiv Dokumente zum Kindertransport fand – mit seinem richtigen Namen und dem seiner Mutter. Das war der Durchbruch.

Günter Peleiski weiß, wie sich Menschen fühlen, die ihre Familie verlieren. „Keine Eltern, keine Geschwister, keine Verwandten“, sagt er. „Du bist nackig und allein auf der Erde.“ Peleiski wusste noch nicht einmal, wann er Geburtstag feiern sollte. Er wuchs in einer Pflegefamilie auf. Er ist dankbar, dass es kein Heim war. Er hatte immer wieder schlaflose Nächte und Alpträume. Die Frage seiner Herkunft quälte ihn. „Ein Mensch kennt sich nicht, wenn er nichts von seiner Vergangenheit weiß“, ergänzt er.

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