Wenn der Abschied zu leicht wird

Brüssel · Es ist das Land mit der liberalsten Sterbehilfe-Regelung der Welt. In 1,8 Prozent der Todesfälle in Belgien 2015 war Sterbehilfe die Ursache. Meistens, weil die Patienten die Folgen einer Krebserkrankung nicht mehr aushielten. Nun rätseln Experten, ob der Ausstieg zu leicht ist.

Es war Nathalies Geschichte, die vor zwei Jahren auch die Leser unserer Zeitung anrührte. Das 14-jährige Mädchen in einem Krankenhaus bei Brüssel litt an einem Gehirntumor. Ihren Arzt hatte sie damals gebeten: "Bitte mach, dass der Engel kommt und mich holt." Mediziner, Politiker und Öffentlichkeit entschlossen sich zu einem Schritt, den kein anderes Land wagte: Seit 2014 ist in Belgien die Tötung auf Verlangen auch an Kindern möglich. Im September dieses Jahres wurde sie zum ersten Mal praktiziert. Nathalie starb übrigens eines natürlichen Todes, nur wenige Tage nach ihrer Bitte.

In dem Land mit der liberalsten Sterbehilfe-Regelung der Welt wird nun wieder diskutiert, seitdem die "Staatliche Kommission zur Überwachung der Euthanasie" vor wenigen Tagen ihren Bericht für das Jahr 2015 vorgelegt hat: 2022 Menschen starben, weil sie darum gebeten hatten. Die meisten waren zwischen 39 und 79 Jahre alt. Der Großteil (fast 68 Prozent) konnte oder wollte die Folgen einer Krebserkrankung nicht mehr aushalten, schwere Nervenkrankheiten (6,7 Prozent) stellten den zweitwichtigsten Grund für den Wunsch nach dem Tod dar. 1,8 Prozent der Todesfälle in Belgien geschahen durch Euthanasie, wie die aktive Sterbehilfe bei unserem Benelux-Nachbarn offiziell bezeichnet wird.

Das mag nicht viel erscheinen. Für die Gegner aber Grund genug, erneut zu fragen, ob sich nicht doch jener Dammbruch eingestellt habe, den viele befürchteten, als der Gesetzgeber den Weg zum Tod eröffnete - wenn auch unter strengen Auflagen. "Die absoluten Zahlen belegen keinen Dammbruch", sagt Professor Lukas Radbruch, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, gegenüber unserer Zeitung. "Dennoch lässt er sich an vielen einzelnen Faktoren erahnen." Der Anteil der Demenzkranken, die in Belgien um eine tödliche Medikamentendosis bitten, sei deutlich angestiegen. "In diesem Jahr wurde zum ersten Mal auch bei einem Kind Sterbehilfe vollzogen. Der Kreis derer, die keine Hilfe finden, weitet sich aus. Das ist ein Alarmzeichen." Tatsächlich zeigen die Daten der staatlichen Kommission Auffälligkeiten. So ist die Zahl der genehmigten Euthanasie-Fälle mit fast 80 Prozent im flämischen Landesteil hoch, während aus der frankophonen Wallonie nur gut 20 Prozent gemeldet wurden. Noch rätseln Mediziner und Politiker, ob die stärkere religiöse Bindung im katholischen Süden Belgiens einen Einfluss hat. Für den Chef der deutschen Palliativ-Gesellschaft heißt das Signal aber: "Sterbehilfe wird immer breiter akzeptiert." Das eigentlich strikte System einer Kommission aus Ärzten, Theologen und Ethikern sowie anderen Fachleute, die in Belgien jeden Fall überprüfen und den eigenen, selbstverantwortlichen Wunsch des Patienten verifizieren müssen, "funktioniert nicht", sagt Radbruch. "Es wird selten nachträglich kontrolliert oder gar verfolgt." Tatsächlich, so heißt es aus den Reihen der Euthanasie-Gegner in Belgien, habe man nur einen ungenauen Überblick, weil nicht einmal die Hälfte der erfassten Fälle in Krankenhäusern stattfänden. Der weitaus größere Teil der Todkranken stirbt zu Hause oder in den wenigen palliativen Einrichtungen, die es in dem zehn Millionen Einwohner großen Land gibt. Zwar absolvierte der Großteil der Patienten , denen der Tod am Ende erlaubt wurde, die vorgeschrieben Mehrfach-Untersuchungen bei mehreren Ärzten, aber nur knapp die Hälfte hatte zuvor Kontakt mit einem Palliativ-Spezialisten. Es sind nicht wenige, die in Belgien und darüber hinaus zu dem Schluss kommen, mit der Euthanasie schaffe man einen zu leichten Ausweg für jene, denen auch besser geholfen werden könnte. Die Zahlen hinterlassen viele Fragen - nicht nur in Belgien.

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