Venezianer "begraben" ihre Stadt

Venedig/Rom. Droht Venedig mit seinen Gondeln und Kanälen zu einem von Touristen aus aller Welt gestürmten Freiluftmuseum ohne Venezianer zu werden? Die Befürchtung scheint übertrieben, doch klar ist: In der Lagunenstadt leben immer weniger "Eingeborene". Auf unter 60 000 ist ihre Zahl im Oktober gesunken

Venedig/Rom. Droht Venedig mit seinen Gondeln und Kanälen zu einem von Touristen aus aller Welt gestürmten Freiluftmuseum ohne Venezianer zu werden? Die Befürchtung scheint übertrieben, doch klar ist: In der Lagunenstadt leben immer weniger "Eingeborene". Auf unter 60 000 ist ihre Zahl im Oktober gesunken. Vor zwei Jahren waren es noch 80 000 und 1951 sogar noch mehr als doppelt so viele. Per elektronischer Anzeige zählt das soziale Netzwerk "venessia.com" diese Kanalflucht Tag für Tag mit. Während die berühmte "Serenissima" jährlich etwa 18 Millionen Touristen aushalten muss, dreht pro Tag ein Venezianer seiner bewunderten Bilderbuchstadt ein für alle Mal den Rücken.

Mehrere hundert Venezianer haben sich deswegen am Samstag an einer symbolischen "Beerdigung" der Stadt beteiligt. Eine Gondel-Prozession mit leeren Särgen, geschmückt mit üppigen Blumenkränzen, fuhr vom Bahnhof durch den Canal Grande zum Bürgermeisteramt, wo vor internationalen Fernsehteams eine Traueransprache gehalten wurde. "In Venedig kosten die Häuser doppelt so viel wie auf dem Festland, das ist viel zu teuer für die Mittelklasse", sagte Pierluigi Tamburrini, Sprecher des Bürgervereins Venessia.com, der die Trauerfeier organisierte. Die Stadt müsse mehr für ihre Bewohner tun, "wir lehnen die derzeitige touristische Monokultur ab", fügte Tamburrini hinzu.

Venedig geht es auch nicht anders als Rom oder Mailand, wo viele an den Stadtrand fliehen, betonte die Zeitung "Corriere della Sera". Doch der Stadtrand ist in Venedig überdeutlich weit entfernt. Denn die lange "Brücke der Freiheit" trennt die Lagunenstadt von Festlandteilen wie Mestre. "Und das Lamentieren über den Zerfall kommt doch immer genau dann, wenn der Vorhang über der kulturellen Jahreszeit fällt", so meint das Mailänder Blatt: Also nach Kunst-Biennale, Filmfestival und all den großen Ausstellungen.

"Wenn nichts unternommen wird, dann wird Venedig bald sterben. Allerdings wird die Stadt nicht im Meer versinken, sondern einfach nur ausbluten", klagt die deutsche Wahl-Venezianerin Petra Reski, die ein Buch über die Mafia geschrieben hat. Viel gebaggert wurde rund um die Lagunenstadt, der das Wasser bis zum Hals steht, um die riesigen Kreuzfahrtschiffe anzuziehen. Seit Jahren in der Kritik ist auch der Milliarden-Plan, mit Barrieren und Fluttoren die starken Hochwasser zu vermeiden. Dazu kommen immer neue Megaprojekte auch der Kultur. Die Stadtverwaltung reagierte verhalten und verwies lediglich darauf, dass derzeit sehr wohl mehr als 60 000 Menschen in Venedig ihren Wohnsitz hätten, nämlich genau 60 025. Das Spektakel auf dem Canal Grande sei also "wie die Bestattung eines Lebendigen, und das bringt doch normalerweise etwas Unglück".