4000 Häftlinge Corona trifft New Yorker Gefängnis ungebremst

New York · Ein früherer Insasse der Haftinsel Rikers Island schildert, wie fahrlässig die Behörden dort mit der Pandemie umgehen.

 Auf Rikers Island befindet sich eine der größten und bekanntesten Haftanstalten der USA. Etwa 4000 Insassen sind dort untergebracht. Im Jahr 2026 soll das Gefängnis geschlossen werden. 

Auf Rikers Island befindet sich eine der größten und bekanntesten Haftanstalten der USA. Etwa 4000 Insassen sind dort untergebracht. Im Jahr 2026 soll das Gefängnis geschlossen werden. 

Foto: AP/Seth Wenig

Ein wenig verlegen blinzelt der frühere Häftling Marcus Brown in die Kamera seines Laptops. Nach ein paar Sätzen fragt er unsicher, ob er eine Pause machen solle oder weiterreden dürfe. Anfangs merkt man ihm an, wie ungewohnt die Videokonferenz für ihn ist. Irgendwann aber legt er jede Zurückhaltung ab und beschreibt sehr emotional, wie er seine letzten Wochen im Gefängnis auf Rikers Island erlebte. „Sie haben uns nie getestet. Wir haben gebettelt und gebettelt, aber getestet haben sie uns nicht.“ Die New Yorker Organisation Fortune Society hatte die Video­schaltung organisiert. Sie hilft ehemals Inhaftierten beim Neustart in der Freiheit.

In dem Gebäude, in dem er sich mit anderen eine Gemeinschaftszelle teilte, hätten die Symptome von mindestens zehn der fünfzig Insassen auf Covid-19 schließen lassen. Bis zu dem Tag, an dem er entlassen wurde, sei keiner von ihnen auf das Virus untersucht worden, sagt Brown.

Vom 10. Januar bis zum 2. April saß der Mittfünfziger demnach auf Rikers Island ein. Auf der Insel im East River von New York City befindet sich eines der größten und bekanntesten amerikanischen Gefängnisse. 2026 soll die Haftanstalt geschlossen werden, noch aber zählt sie rund viertausend Insassen. Insgesamt leben in den USA 2,2 Millionen Menschen hinter Gittern – im Verhältnis zur Bevölkerung sind das mehr als in jedem anderen Land.

Brown musste hinter Gitter, weil er gegen Bewährungsauflagen verstoßen hatte, wie er selbst erzählt. Den genauen Grund nennt Corey Stoughton, die Anwältin, die ihn freiwillig kostenlos vertritt, nicht. Aber es genüge schon, wenn man zu einem Beratungstermin mit Sozialarbeitern nicht erscheine, beim Rauchen eines Joints erwischt werde oder einen Drogentest nicht bestehe.

In den größeren Zellen beträgt der Abstand zwischen den Bettkanten laut Brown drei Fuß, etwa neunzig Zentimeter. Um „social distancing“ zu praktizieren, schliefen die Häftlinge nicht mehr so, dass sie Kopf an Kopf liegen, sondern so, dass sich der eigene Kopf auf Höhe der Füße des Nachbarn befindet. Zwar erhalte jeder eine Schutzmaske, allerdings nur eine pro Woche. Desinfektionsmittel sei Mangelware, manche Gefangene mischten Wasser mit Shampoo, um Tische und Türklinken zu desinfizieren, erzählt Stoughton. Wer das gemeinsame Telefon nutze, tue dies nur noch mit Handschuh.

Marcus Brown fühlte sich eine Woche vor seiner Entlassung schlapp. Er meldete sich zusammen mit fünf weiteren Häftlingen zum „sick call“, also zur Untersuchung bei einem Gefängnisarzt. Bei keinem sei Fieber gemessen, keinem seien Medikamente verschrieben worden, sagt er. „Sie haben unseren Blutdruck kontrolliert, dann ging es zurück in die Zelle.“ Zwei der fünf seien später positiv auf das Virus getestet worden.

Wie schnell sich der Erreger verbreitete, habe er daran gemerkt, dass bald immer mehr Zettel an den Türen der Gemeinschaftsräume klebten, berichtet der Mittfünziger. Auf denen sei zu lesen gewesen, dass es sich bei den Zimmern von jetzt an um „isolierten Wohnbereiche“ handle. Da er in der Küche beschäftigt gewesen sei und sich relativ frei auf dem Gelände bewegen konnte, habe er gesehen, dass irgendwann an fast jeder Tür so ein Zettel hing. Ganz Rikers Island, schlussfolgerte er, stand unter Quarantäne.

Dies habe dazu geführt, dass viele Freilassungen aufgeschoben wurden, auch wenn die Behörden sie bereits angewiesen hatten. Statt die Insel verlassen zu können, habe man bleiben müssen – zunächst für zwei Wochen, im Falle neuer bestätigter Infektionen sei mit einer zweiten oder gar ein dritten 14-Tage-Verlängerung zu rechen gewesen. Die New Yorker Richterin Alison Nathan verglich es mit einer Uhr, deren Zeiger immer wieder zurückgestellt werden. Sie verfügte in der Causa eines 55-Jährigen namens Gerard Scparta ein Ende der – in ihren Worten – „kafkaesken“ Praxis.

Nach offiziellen Angaben sind, Stand Mitte dieser Woche, 365 der 4000 Häftlinge der Insel positiv getestet worden. Aus anderen Landesteilen werden noch weit bedenklichere Zahlen gemeldet, etwa aus Ohio, wo sich in der Kleinstadt Marion rund 2000 der 2500 Insassen einer Strafvollzugsanstalt angesteckt haben. Wie viele Tests es überhaupt auf Rikers Island gab – dazu gibt es keine öffentlichen Angaben. Doch schon die bekannten Zahlen vermitteln das Bild einer Notlage, die noch akuter als die im ohnehin schon hart getroffenen New York. Demnach liegt die Infektionsrate auf der Haftinsel um das Siebenfache über dem Durchschnitt in der Metropole.

„Es ist ein gefährlicher Ort, und wir bringen immer noch Leute hin, nur weil sie nicht jede Bewährungsauflage befolgten“, kritisiert die Juristin Stoughton. Vincent Schiraldi, Experte für Justizreform an der Columbia-Universität, auch er per Webkamera zugeschaltet, nennt weitere Zahlen. Demnach wurden seit dem 27. März 41 New Yorker wegen rein technischer Verstöße, wie er es charakterisiert, nach Rikers Island gebracht. „Was wir riskieren“, sagt Schiraldi, „ist der Tod von Menschen, die mal einen Termin verpasst haben“.

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