Stricken fürs Stadtbild

Berlin. Nur einen Tag lang hat der Überzug aus Wolle den Mülleimer in der Kreuzberger Oranienstraße gewärmt - dann war er verschwunden. "Ein Punk hat ihn mitgenommen und ihn über seinen Rucksack gezogen", sagt die 31-jährige Emmanuelle Barrère aus Nizza. Sie hat den kuschelweichen Hingucker gestrickt

Berlin. Nur einen Tag lang hat der Überzug aus Wolle den Mülleimer in der Kreuzberger Oranienstraße gewärmt - dann war er verschwunden. "Ein Punk hat ihn mitgenommen und ihn über seinen Rucksack gezogen", sagt die 31-jährige Emmanuelle Barrère aus Nizza. Sie hat den kuschelweichen Hingucker gestrickt. Er ist einer von zahlreichen Woll-Graffiti, die sie und ihre Freundin, die 28-jährige Oryanne Dufour, in Berlin verteilt haben. "Urban Knitting" (Urbanes Stricken) heißt die Bewegung, die im texanischen Houston vor fünf Jahren entstand. Ein paar Frauen trafen sich und überlegten, was mit den angefangenen Strickereien, die nie fertig wurden, zu tun sei. Sie kamen auf die Idee, sie an Laternenpfählen, Bänken, Bäumen, Mülleimern oder Briefkästen anzubringen, als Farbflecke in der Stadt. Während in London die Bewegung "Yarn Storming" (Garn-Sturm) mit Strickereien an zentralen Plätzen wie dem Covent Garden für Aufmerksamkeit sorgte, steht die Berliner Woll-Graffiti-Szene noch am Anfang. Die Französinnen Barrère und Dufour gehören zur Gruppe "Collectif France Tricot", deren fünf Mitglieder nicht nur in Berlin, sondern auch in Paris und Lyon aktiv sind. Barrère entscheidet spontan, ob sie ein Stück Wolle an einem Baum oder einer Bank befestigt. "Ich wähle gern Orte, die stark frequentiert sind", sagt sie. Um Fragen von Passanten zu entgehen, bringt sie ihre Strickereien jedoch am liebsten nachts an. Was danach mit ihnen passiert, beobachtet sie mit kühlem Blick. "Manche hängen nur einen Tag, andere vier Monate", berichtet Barrère. Wenn eine Strickarbeit verschwindet, empfindet sie das nicht einmal als Diebstahl. Wenn Leute die Strickarbeit mitnehmen, dann sei dies eben das Spiel der Straße, findet sie. Eine politische Dimension hat das "Urban Knitting" für Barrère nicht: "Es ist mein Geschenk für die Straße." Sie beobachte, dass die Passanten lächeln, wenn sie an einer bestrickten Bank oder Laternenmasten vorbei kommen. "Der Farbfleck bringt sie zum Nachdenken darüber, wie die Stadt aussieht." Manchmal strickt die 31-Jährige Worte wie "Revolte" oder "prekär" in ihre Graffiti. "Mich interessiert der Widerspruch zwischen der Aussage und dem weichen Material", sagt sie. Oryanne Dufour sieht "Urban Knitting" als Aufwertung der Sprüh-Graffiti. "Bei Wolle sagen die Leute: Ach wie niedlich, während sie gesprayte Graffiti ablehnen", sagt sie. Wenn sie nicht für den öffentlichen Raum stricken, fabrizieren beide reguläre Strickwaren wie Pullover oder Schals. Im Berliner Bezirk Mitte treffen sie sich alle zwei Wochen mit anderen Strickbegeisterten in der Gruppe "StrickenArt". Frauen, aber auch Männer sitzen bei Bier und elektronischen Beats, um gemeinsam mit den Nadeln zu klappern. Diese Art moderner Handarbeitsclubs gibt es immer häufiger. Dufour sieht das Comeback des Strickens als Hinwendung zum Selbstgemachten, zur Selbstständigkeit. "Unsere Großmütter haben gestrickt, doch für unsere Mütter wäre das nie in Frage gekommen", sagt sie. Barrère hält es für eine Art "Gegengewicht zum Fortschritt".

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