Physiker hoffen auf den Urknall im Labor
Genf. Die Pressemitteilung war nüchtern und sachlich, wie es sich für eine wissenschaftliche Einrichtung gehört. Doch sie enthielt auch Reizworte wie "beträchtlich" und "Fortschritt". Und sie betraf eines der größten ungelösten Rätsel unserer Welt. Kein Wunder, dass die Welt der Teilchenphysik in Aufregung geriet
Genf. Die Pressemitteilung war nüchtern und sachlich, wie es sich für eine wissenschaftliche Einrichtung gehört. Doch sie enthielt auch Reizworte wie "beträchtlich" und "Fortschritt". Und sie betraf eines der größten ungelösten Rätsel unserer Welt. Kein Wunder, dass die Welt der Teilchenphysik in Aufregung geriet. Heute schaut sie mit Argusaugen nach Genf, wo Wissenschaftler am Europäischen Teilchenforschungszentrum (Cern) über neue Erkenntnisse bei der Suche nach dem Higgs-Boson berichten. Benannt nach dem britischen Physiker Peter Higgs (82), der es 1964 vorhersagte, wird das Higgs-Teilchen seit Jahrzehnten mit Hilfe immer größerer Teilchenbeschleuniger gesucht. Es gilt als das letzte noch fehlende Puzzleteil im Standardmodell der Materie, der bislang umfassendsten und schlüssigsten Beschreibung des Aufbaus der Welt.Klar, dass es auf der Fahndungsliste der Teilchenphysik ganz oben steht. Im Grenzgebiet zwischen der Schweiz und Frankreich beschleunigen Cern-Physiker Protonen (Wasserstoffatomkerne) beinahe auf Lichtgeschwindigkeit. Mit enormer Wucht prallen die Partikel im 27 Kilometer langen Ringtunnel des Beschleunigers LHC (Large Hadron Collider) aufeinander. Dabei entsteht ein ganzer Regen von Folgeteilchen. Ganz selten, so die Erwartung der Forscher, ist darunter auch ein Higgs-Boson. Diese Elementarteilchen sollen, so die Theorie, ein unsichtbares, den gesamten Raum durchdringendes Feld bilden, das der Materie die Masse verleiht.
"Higgs oder nix?"
Mit den beiden hausgroßen Detektoren ATLAS und CMS suchen die Physiker nach Zerfallsprodukten, die einen zumindest indirekten Beweis für die Existenz des prophezeiten Higgs-Boson liefern würden.Die Aufregung in der Higgs-Fangemeinde vor dem für heute angekündigten Seminar könnte kaum größer sein. So mancher will erfahren haben, dass tatsächlich Higgs-Spuren entdeckt wurden. Angeblich, wie in Blogs zu lesen ist, bei etwa 125 Gigaelektronenvolt (GeV) - einer Einheit, in der Physiker die Masse von Elementarteilchen angeben.
Tatsächlich vermuten Forscher die Teilchen im Bereich zwischen 115 und 140 GeV, in dem Messungen besonders langwierig sind. So gut wie alle anderen Verstecke wurden bereits durchsucht, berichtete Michael Hauschild vom Team des ATLAS-Detektors. "Wenn die Natur ein Higgs-Teilchen bei 160 oder 170 GeV geschaffen hätte, dann hätten wir es schon gefunden."
Wodurch auch immer die Spekulationen genährt werden, die Cern-Wissenschaftler bleiben offenbar der Tradition des Schweigens bis zum Zeitpunkt der Bekanntgabe treu. Mancher, der mit am Gerüchte-Karussell drehte, hätte vielleicht jene Passage in der Seminar-Ankündigung stärker beachten sollen, wonach es "signifikante" Fortschritte bei der Suche gebe, aber "nicht genug, um irgendwelche abschließenden Erklärungen über die Existenz oder Nichtexistenz des Higgs abzugeben". Die Shakespeare-Frage "Sein oder Nichtsein" dürfte in Bezug auf das Higgs-Boson also weiter offen bleiben, wenngleich vielleicht nicht mehr ganz so offen wie bisher.
Doch es wäre wohl ein noch viel größerer wissenschaftlicher Knalleffekt, wenn die Antwort auf die - lax formulierte - Frage "Higgs oder nix?" tatsächlich lauten müsste: Higgs-Teilchen gibt es nicht. "Wenn dieser Grundbaustein nicht existiert", sagte Cern-Direktor Rolf-Dieter Heuer im Juli dem Schweizer "Tages-Anzeiger", "dann hätten wir 40 Jahre nach Einführung dieses schönen Modells zum ersten Mal einen echten Bruch entdeckt. Was bliebe, wäre ein großes Loch, und wir müssten etwas anderes finden, um es auszufüllen." Eine klare Antwort, so hatte Heuer im Sommer versichert, werde es geben - und zwar bis Ende 2012.