Prozessauftakt in Oldenburg Unfassbare Mordserie kommt vor Gericht

Oldenburg · Der größte Mordprozess der Nachkriegsgeschichte beginnt morgen in Oldenburg. Der ehemalige Pfleger Niels H. muss sich für 99 Todesfälle verantworten.

 In dieser Klinik in Delmenhorst – und in Oldenburg – soll Pfleger Niels H. Patienten getötet haben. Warum er das getan hat, soll jetzt ein Prozess klären.

In dieser Klinik in Delmenhorst – und in Oldenburg – soll Pfleger Niels H. Patienten getötet haben. Warum er das getan hat, soll jetzt ein Prozess klären.

Foto: dpa/Hauke-Christian Dittrich

Wahllos schlägt der Mörder zu. Seine Opfer sind Mütter, Ehemänner, Großväter. Doch eines haben sie alle gemeinsam: Sie liegen auf der Intensivstation, angeschlossen an Maschinen und Schläuche. Die meisten schlafen oder liegen im Koma. Wehrlose Menschen, die auf helfende Hände angewiesen sind. Doch ausgerechnet diese bringen ihnen den Tod.

Der frühere Krankenpfleger Niels H. soll in den Kliniken Oldenburg und Delmenhorst in Niedersachsen jahrelang Patienten umgebracht haben – so viele, dass die Ermittler von der wohl größten Mordserie in der deutschen Nachkriegsgeschichte sprechen. Außergewöhnliche Dimensionen wird auch der Prozess gegen den 41-Jährigen haben. Wegen des Todes von 99 Menschen muss sich H. ab morgen vor dem Landgericht Oldenburg verantworten. Womöglich wird die Anklage noch erweitert – bei Befragungen durch einen Psychiater habe sich H. erst kürzlich an einen zusätzlichen Fall erinnert, sagte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Oldenburg.

Auf den Tag des Prozessauftakts warten die Familien der Opfer seit Jahren. 119 Nebenkläger wollen dem mutmaßlichen Mörder der von ihnen geliebten Menschen endlich ins Gesicht blicken. „Es wird eine Achterbahn der Gefühle“, sagt Christian Marbach, der Sprecher der Nebenkläger. Der Diplom-Kaufmann weiß, wovon er spricht. Sein Großvater ist eines der Opfer von Niels H. Der Ex-Pfleger stand wegen des Todes von sechs Patienten bereits in zwei Verfahren vor Gericht, darunter war auch Marbachs Großvater.

Seit 2015 sitzt der zu lebenslanger Haft verurteilte H. im Gefängnis. Daran wird auch der neue Prozess nichts ändern. Trotzdem sind die Erwartungen groß. „Da wird Rechtsgeschichte geschrieben in jeder Hinsicht“, sagt der Nebenklage-Anwalt Franz-Josef Averbeck. Wegen des großen Andrangs hat das Landgericht die Verhandlung in die Weser-Ems-Hallen in Oldenburg verlegt. An 23 Prozesstagen verwandelt sich der 700 Quadratmeter große Raum in einen Gerichtssaal.

Zwischen 2000 und 2005 soll H. nach Ansicht der Staatsanwaltschaft immer wieder Patienten ein Medikament gespritzt haben, das tödliche Nebenwirkungen hatte. Dann versuchte er, sie wiederzubeleben – was in vielen Fällen misslang. Er soll es aus Langeweile getan haben und, um vor Kollegen mit seinen Wiederbelebungskünsten zu glänzen.

In beiden Krankenhäusern schöpften Kollegen Verdacht, schritten aber nicht ein, obwohl es nach Ansicht der Ermittler konkrete Hinweise auf die Taten gab. Vier frühere Kollegen von H. am Klinikum Delmenhorst werden sich deshalb wegen Totschlags durch Unterlassen vor Gericht verantworten müssen. Die Ermittlungen gegen fünf ehemalige Klinikmitarbeiter aus Oldenburg laufen noch.

Bei Befragungen hatte H. die Vorwürfe weitgehend eingeräumt. Deshalb geht die Staatsanwaltschaft davon aus, dass er das Geständnis vor Gericht wiederholen wird.

Für den Vorsitzenden Richter Sebastian Bührmann wird es das dritte Verfahren sein, dass er gegen Niels H. leitet. Dieses sei notwendig, damit die Angehörigen Gerechtigkeit erführen und Gewissheit über das Schicksal der Opfer bekämen, sagt er. „Das ist der Sinn des Prozesses: Soweit wie möglich Klarheit zu schaffen.“ Und selbst wenn am Ende kein anderes Urteil als zuvor stehen wird, hat dieses doch auch juristische Konsequenzen, wie die Nebenklage-Anwältin Gaby Lübben sagt.

 Sitzt seit drei Jahren im Gefängnis: Niels H., hier bei einem früheren Prozess 2014.

Sitzt seit drei Jahren im Gefängnis: Niels H., hier bei einem früheren Prozess 2014.

Foto: dpa/Carmen Jaspersen

Eine lebenslange Haftstrafe bedeutet in Deutschland nicht zwangsläufig, dass jemand bis zu seinem Tod im Gefängnis sitzt. Nach einer bestimmten Zeit prüft eine Strafvollstreckungskammer, ob die Strafe ausgesetzt werden kann. „Jede nachgewiesene Tat verlängert seine Haft“, sagt Lübben.

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