Mit der Pille mutig wie Superman

Berlin. Ein Wagen rast durch die Berliner Nacht, das Tempo atemberaubend, der Fahrer im Rausch. Ein paar Kilometer hält die Polizei mit, dann geben die Beamten auf. Zu gefährlich, Unbeteiligte könnten zu Schaden kommen. Der Raser entkommt vorerst, und die Polizisten wissen, was ihm dabei half: Tilidin

Berlin. Ein Wagen rast durch die Berliner Nacht, das Tempo atemberaubend, der Fahrer im Rausch. Ein paar Kilometer hält die Polizei mit, dann geben die Beamten auf. Zu gefährlich, Unbeteiligte könnten zu Schaden kommen. Der Raser entkommt vorerst, und die Polizisten wissen, was ihm dabei half: Tilidin. "Man fühlt sich damit wie Superman, furchtlos und schmerzfrei", sagt Carsten Szymanski vom Neuköllner Intensivtäterkommissariat. Immer wieder putschen sich Jugendliche in dem Problembezirk mit dem Schmerzmittel auf, bevor sie Menschen ausrauben oder in Geschäfte einbrechen. Inzwischen mehren sich die Anzeichen, dass Tilidin häufig auch außerhalb von Jugendgangs die Runde macht. "Das Medikament macht euphorisch, lässt Hemmungen fallen und kann unter Umständen aggressivitätssteigernd wirken", heißt es in der jüngsten Kriminalitätsstatistik der Berliner Polizei. "Modedroge", heißt dort der Stoff, der am Anfang manch schwerer Gewalttat steht und ungeahnte Kräfte wecken kann - was die Beamten bei der Festnahme zu spüren bekommen. "Mit einfachen Hebel- und Haltegriffen kommt man da nicht weiter, die spüren den Schmerz ja gar nicht", erklärt Szymanski. Nur in Überzahl werde man der Verdächtigen Herr. Die Techniker Krankenkasse sieht die Hauptstadt mittlerweile als Zentrum für Fälscher von Tilidin-Rezepten. Diebstahl und Handel mit den Verschreibungen sei systematisch organisiert. 593 Versuche, sich das verschreibungspflichtige Präparat mit gefälschten Rezepten zu erschleichen, flogen 2007 auf. Wie oft der Betrug unentdeckt bleibt, steht nicht in der Statistik. In Großstädten begehrtVor allem junge muslimische Männer griffen zu Tilidin, sagt Berlins Drogenbeauftragte Christine Köhler-Azara. "Sie wollen keine Drogen nehmen, und Tilidin ist eben ein Medikament." Auch in Hamburg häufen sich nach Angaben der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände die fingierten Verschreibungen. Selbst in den umliegenden Bundesländern der Großstädte müssten die Apotheker inzwischen auf der Hut sein, meint Sprecherin Ursula Sellerberg. Dass es süchtig machen kann, sei vielen nicht bewusst. "Es gibt in der Zwischenzeit eine Menge Leute, die abhängig sind", sagt Jürgen Schaffranek, seit Jahren Sozialarbeiter in der Drogenszene von Kreuzberg und Neukölln. Eine feste Händlerstruktur versorge fast alle Innenstadtbezirke. Suchtmediziner warnen vor dem Missbrauch des Schmerzmittels, das eigentlich nach schweren Operationen oder bei Krebspatienten verabreicht wird. Es macht abhängig, wie der Charit&;-Arzt Jakob Hein erklärt. Verglichen mit harten Drogen sei es zudem unauffällig konsumierbar. "Das kann man sich auf jeder Gartenparty reinziehen, ohne dass jemand danach fragt." Von einem Verbot oder strengeren Auflagen hält der Mediziner nichts. "Tilidin wird sich noch zwei Jahre halten, und wenn es dann eine Regelung geben sollte, hat sich die Szene längst etwas anderem zugewandt." Mit einem Mythos räumt Hein jedoch auf. "Aggressiv macht Tilidin nicht, aggressiv sind die Menschen meist schon."

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