London Mindestens 17 Tote nach Riesen-Brand

London · Nach der Feuer-Katastrophe in einem Londoner Hochhaus werden noch zahlreiche Menschen vermisst.

 Helfer bringen eine Matratze in eine Notunterkunft nahe der Brandstelle. Die Opfer erhalten viele Spenden von der britischen Bevölkerung.

Helfer bringen eine Matratze in eine Notunterkunft nahe der Brandstelle. Die Opfer erhalten viele Spenden von der britischen Bevölkerung.

Foto: dpa/Tolga Akmen

In all den Trümmern, der Asche und Verzweiflung wirkt das weiße Blatt Papier wie ein Hoffnungsschimmer, die Ecken zwar angekokelt und doch weitgehend unversehrt. „Ich kann mein Gefühl nicht beschreiben. Ich bin sehr, sehr glücklich. Ich habe viele Ideen und Pläne. Ich habe viele Träume, die ich verwirklichen will.“ Es ist der handschriftliche, herzzerreißende Brief eines Kindes, das im Grenfell Tower lebte – in jenem 24-stöckigen Wohnhaus in West-London, in dem in der Nacht auf Mittwoch ein Inferno tobte. Der Klotz ragte stundenlang wie eine riesige brennende Fackel in den Nachthimmel. Das Gebäude im Stadtteil Kensington, es sieht aus wie ein heruntergebranntes Streichholz. Ob das Kind mit den Ideen, Plänen und Träumen überlebt hat oder zu den mindestens 17 Todesopfern gehört? Noch ist das genauso unklar wie die Ursache des Brandes oder das ganze Ausmaß der Katastrophe. Die Behörden gehen von einer noch weitaus höheren Zahl an Toten aus, da sich wohl rund 600 Menschen in der Schicksalsnacht in dem Gebäude aufhielten. Die Suche nach Vermissten in den oberen Stockwerken wurde gestern jedoch aus Sicherheitsgründen unterbrochen.

Hunderte Londoner strömten am Mittwoch und gestern in die Gegend, brachten Decken, Kleider, Wasser, Essen und Babynahrung. „Die Anteilnahme und Unterstützung sind überwältigend“, sagte eine Nachbarin mit Tränen in den Augen. Bei einer Mahnwache zündeten Trauernde Kerzen an, legten Blumen nieder – im Hintergrund das schwarze Gerippe, aus dem es noch immer qualmte. Viele der Überlebenden, die entweder bei Verwandten oder in Notunterkünften, in Moscheen oder Gemeindehallen übernachtet haben, kehrten gestern abermals in die Gegend zurück, blickten geschockt und verzweifelt auf die Ruine mit der verkohlten Fassade, wo einmal ihr Zuhause war. Und in die Trauer mischte sich Wut. „Wie zur Hölle konnte das passieren?“, fragte das Boulevardblatt „Daily Mail“ stellvertretend für das ganze Land auf seiner Titelseite. Etliche Anwohner sind der festen Überzeugung, dass mangelnde Sicherheit das Desaster erst ermöglichte.

Das Hochhaus, ein im Jahr 1974 gebauter Sozialwohnblock, wurde von 2014 bis 2016 für 8,6 Millionen Pfund, knapp zehn Millionen Euro, modernisiert. Etliche Menschen wollen jedoch nicht glauben, dass so viel Geld investiert wurde. „Die Behörden scheren sich nicht um uns Leute aus der Arbeiterklasse, es geht nur darum, dass das Haus für die reichen Nachbarn von außen schön aussieht“, so eine Bewohnerin des Sozialbaus, gelegen in einem der wohlhabendsten Bezirke Großbritanniens. Viele verweisen voller Ärger auf mangelnde Brandschutzmaßnahmen. So berichteten Zeugen etwa, keinen gebäudeweiten, lauten Rauchalarm gehört zu haben. Und weil der Brandschutz-Hinweis an die Bewohner lautete, dass sie im Fall eines Feuers außerhalb der Wohnung aus Sicherheitsgründen in ihren Apartments bleiben und nasse Handtücher unter die Türen legen sollten, verbrannten viele Menschen schlicht in ihren eigenen vier Wänden.

Im Königreich läuft derweil die Diskussion um Sicherheitsstandards. So kam bereits am Morgen nach dem verheerenden Brand Kritik an den Eigentümern und lokalen Behörden auf. Die Bewohner–Vereinigung Grenfell Action Group etwa warnte mehrmals eindringlich vor Brandrisiken in dem Gebäude – und stieß wiederholt auf taube Ohren. Sie sei überzeugt, dass „erst ein katastrophaler Vorfall die Unfähigkeit und Stümperei unseres Vermieters“ ans Licht bringen werde, schrieb sie vor wenigen Monaten in einem Blog unter der Überschrift „Spiel mit dem Feuer“. Der Vermieter, die Kensington and Chelsea Tenant Management Organisation (KCTMO), miss­achte Sicherheitsvorschriften, so der Vorwurf.

Kritische Fragen prasselten von allen Seiten auf Politiker und Behörden ein. Im Zentrum: Sind die Brandschutzbestimmungen des Königreichs ausreichend? Wie hat die Fassadenverkleidung die Feuersicherheit beeinträchtigt? Ist sie dafür verantwortlich, dass sich der Brand in so rasender Schnelle ausbreitete, wie die Feuerwehr beklagte? Der erste Notruf ging am Mittwochmorgen um 0.54 Uhr ein, innerhalb von sechs Minuten waren laut Einsatzkräften die ersten Löschfahrzeuge vor Ort. Sie konnten trotzdem kaum etwas tun.

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