Mexikos Kinder sparen auf Kalaschnikows

Ciudad Juárez. Jorge ist sechs Jahre alt und spart sein Geld für eine Kalaschnikow AK-47. Solch ein Sturmgewehr, so glaubt der mexikanische Junge, braucht er mindestens, um den brutalen Mord an seinem Vater zu rächen. Jorge ist eines von 12 000 Kindern, die Mexikos unerbittlicher, blutiger Drogenkrieg zu Waisen oder Halbwaisen gemacht hat

Ciudad Juárez. Jorge ist sechs Jahre alt und spart sein Geld für eine Kalaschnikow AK-47. Solch ein Sturmgewehr, so glaubt der mexikanische Junge, braucht er mindestens, um den brutalen Mord an seinem Vater zu rächen. Jorge ist eines von 12 000 Kindern, die Mexikos unerbittlicher, blutiger Drogenkrieg zu Waisen oder Halbwaisen gemacht hat. Mehr als 34 600 Menschen starben in dem zentralamerikanischen Land seit Dezember 2006 durch Revierkämpfe, mit denen die Drogenbarone das ganze Land überziehen. Weitere 5000 Menschen gelten nach Angaben von Menschenrechtsaktivisten als vermisst.

US-Grenze ist Kernregion

Der Drogenhandel floriert in ganz Mexiko - vor allem entlang der Grenze zu den USA. Allein in der Grenzstadt Ciudad Juárez wurden seit Ende 2006 etwa 7000 Menschen ermordet, die meisten davon waren zwischen 17 und 35 Jahre alt. Viele von ihnen hatten nach Angaben von Sozialarbeitern und Trauerbegleitern kleine Kinder.

Für Gustavo de la Rosa von der regionalen Menschenrechtskommission ist es ein bleibendes, tragisches Vermächtnis der brutalen Kartell-Schlacht: "Mindestens 12 000 Kinder haben Mutter oder Vater oder beide verloren", sagt er. Wer die Hinrichtung seiner Eltern miterleben muss, trägt ein Leben lang seelische Narben, auch wenn er selbst unverletzt blieb.

Doch in Juárez gibt es lediglich 20 Psychologen, die die Überlebenden betreuen. Und die Zahl der Waisen nimmt täglich zu: "Wir brauchen dringend Psychologen", sagt De la Rosa. Die Behörden suchen nun speziell Personal, das bereits Erfahrung mit Kriegs- und Gewaltopfern in Krisengebieten wie auf dem Balkan oder in Afrika hat.

Jorge hat Glück, als eines der wenigen Kinder therapeutisch betreut zu werden. Nachdem der Kleine seiner Mutter erzählt hatte, dass er sich ein Gewehr kaufen wolle, wandte sie sich an einen Sozialarbeiter. "Diese Geschichten sind nicht ungewöhnlich", sagt Silvia Aguirre, die in der Stadt ein Familienzentrum gründete. Die sechs Therapeuten der Institution arbeiten an den Grenzen ihrer Belastbarkeit.

Therapie bis zur Erschöpfung

Für Eltern oder Pflegeeltern traumatisierter Kinder gibt es Workshops, doch die Nachfrage übersteigt bei weitem das Angebot. Einige Kinder erhalten Spieltherapie, um den gewaltsamen Tod ihrer Eltern zu verarbeiten. Andere kämpfen als Angehörige von Dealern oder Narcos, wie Drogenhändler in Lateinamerika heißen, mit den emotionalen Folgen der Stigmatisierung. Aguirre erzählt von einem Kind, das sein Sparschwein füttert, "um eine Bombe zu kaufen und einen TV-Sender in die Luft zu jagen". Dieser hatte Bilder vom abgetrennten Kopf seines ermordeten Vaters gezeigt.

Geköpfte und Blutlachen

Die Schriftstellerin Myrna Pastrana, die aus Ciudad Juárez stammt, hat rund hundert Geschichten betroffener Kinder zusammengetragen. Ein Sechsjähriger erinnere sich etwa lebhaft an die Blutlachen seiner erschossenen Familienmitglieder auf der Straße. Ihrer Ansicht nach ist internationale Hilfe nötig, beispielsweise vom UN-Kinderhilfswerk Unicef, um den Teufelskreis der Gewalt zu stoppen. In Pastranas Kindheit war Juárez eine lebhafte und schöne Stadt, wie sie betont. Das ist heute schwer vorstellbar.

"Mindestens 12 000 Kinder haben

Mutter oder Vater

oder beide verloren."

Gustavo de la Rosa

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