Mein lieber Schwan

London · Seit Montag ziehen im Auftrag Ihrer Majestät wieder Schwanenzähler die Themse aufwärts. Immer in der dritten Juliwoche sind sie unterwegs und halten so eine Tradition aus dem Mittelalter am Leben.

Die Szenerie an diesem Sommertag erinnert an einen Vereinsausflug. Ruderboote gleiten sanft durchs Wasser, kleine Wellen klatschen gegen das dunkle Holz, Vogelgezwitscher begleitet die Plaudereien der Bootsinsassen. Dann unterbricht ein Schrei die Beschaulichkeit: "All up" ruft einer der Männer. Alle zusammen. Auf der Themse schwimmen einige Jungschwäne, die die Ruderer nun zu einer Herde Richtung Ufer zusammendrängen. Sie schnappen sich die federschlagenden Tiere und klettern an Land. Es folgt eine Prozedur, die sich bis ins 12. Jahrhundert zurückverfolgen lässt und in die Reihe der scheinbar skurrilen Traditionen im Vereinigten Königreich gehört: Im Auftrag Ihrer Majestät findet diese Woche die alljährliche Schwanenzählung auf der Themse bei London statt.

Beim sogenannten "Swan Upping" wird eine Bestandsaufnahme für das Staatsoberhaupt vorgenommen, immerhin darf sich die Queen neben vielen anderen Titeln auch als "Seigneur of the Swans" Herrscherin über den Großteil aller wild lebenden Schwäne bezeichnen. Vor Jahrhunderten hatte sich der Monarch das Eigentumsrecht über die Tiere in England gesichert, juristisch untermauert in einem eigens erlassenen Gesetz. Der Hintergrund? Da zu früheren Zeiten die weißen, grauen und schwarzen Vögel als Delikatessen bei festlichen Banketts begehrt waren und zudem als Daunenlieferanten galten, wurden die Schwäne knapp. Eine Regelung musste her. Und da Privilegien bei der Jagd zu den Feudalrechten gehörten, die wiederum dem Adel vorbehalten waren, konnte sich der König diesen Anspruch sichern. Heute landen die Tiere selbstredend nicht mehr auf dem Esstisch bei Hof, trotzdem geschieht die Zeremonie im Auftrag der Krone.

Der königliche Chef-Schwanenzähler mit dem hochoffiziellen Titel des "Queens Royal Swan Marker" heißt David Barber und schippert seit 22 Jahren eine Woche pro Jahr die Themse hinauf. Am Bug des Boots weht eine rote Fahne, auf der ein weißer Schwan prangt. Barber trägt folgerichtig eine Uniform in den royalen Farben und eine Kapitänsmütze. Verkleidet fühlt er sich keineswegs. Die Tradition zu bewahren, sei von großer Bedeutung. Und noch viel wichtiger: "Durch die königliche Verbindung bekommen wir mehr Aufmerksamkeit", sagt der Brite. Denn heutzutage spielen Essensvorlieben keine Rolle mehr, es geht um Artenschutz und Aufklärung.

Schüler machen deshalb häufig mit oder stehen am Rand, wenn Barber, sein Team und zahlreiche freiwillige Helfer die Jungvögel zählen, messen und wiegen. Gibt es Anzeichen von Verletzungen? Oder Krankheiten? Wie hat sich der Bestand entwickelt? Ein Ornithologe von der Universität Oxford legt den Tieren schließlich einen nummerierten Ring um den Fuß, bevor sie wieder ins Wasser gelassen werden. "So lernen die Kinder die Natur zu schätzen", sagt Barber. Der erste Tag der fünftägigen Mission sei jedoch etwas enttäuschend gewesen. "Wir haben nicht genug Jungschwäne gesehen." Verantwortlich für die schwankenden Populationszahlen macht er "mutwilligen Vandalismus". So habe es Anfang des Jahres einige Fälle gegeben, bei denen Schwäne mit Luftgewehren angeschossen wurden. "Die Tiere sind leider leichte Ziele." Häufig verursache das "sinnlose Schießen furchtbare Verletzungen und manchmal dauert es Tage oder Wochen, bis die Schwäne sterben", sagt Barber.

Im Übrigen herrscht die Queen nicht nur über die Schwäne. Auch alle Wale, Delfine und Störe in den Gewässern rund um die britischen Inseln sind im Besitz der Queen. Theoretisch. Gezählt werden die Tiere nie. Aus Tradition.

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