Lernen bis zum Umfallen

Peking · Für mehr als 200 Millionen Schüler hat in China die Schule begonnen – und die Kindheit aufgehört. Ab jetzt wird gnadenlos aussortiert.

Die kleine Xixi strahlt in die Kamera. Die Sechsjährige hat ihre Schritte tagelang zu Hause geübt, hat vor dem Spiegel mehrmals ihre weiße Jacke angelegt, die schwarze Mütze über den Kopf gezogen. Ein herausgeputztes Mädchen bei seiner Einschulung , so zeigt es Chinas Nachrichtenagentur Xinhua. Glücklich, zufrieden. Xixi ist eines von mehr als 200 Millionen Kindern, die von nun an quer durch China wieder die Schulbank drücken. Mit der Einschulung aber hört ihre Kindheit auf. Sie verschwinden hinter Schreibtischen, von früh bis spät, jahrelang. Glücklich und zufrieden sind die wenigsten von ihnen, zu starr ist das Ausbildungssystem, zu hart der Schulalltag. Selbst Grundschüler werfen sich aus Überforderung aus dem Fenster, wie ein Zehnjähriger aus Chengdu im Oktober 2013. Mittlerweile hat auch die Regierung die Überlastung der Kleinen erkannt. Ausrichten kann sie dagegen aber - noch - kaum etwas. Zu groß ist die Angst der Eltern vorm Scheitern ihres Kindes.

Die Worte, die Chinas Akademie der Wissenschaften, ein als liberal geltender Staats-Thinktank der Volksrepublik, in seinem Blaubuch "Bildung und Erziehung 2014" findet, sind unmissverständlich. "Chinas Schüler können nicht mehr." Der Leistungsdruck, die Angst vor Prüfungen wie auch vor Bestrafungen durch Lehrer und Eltern, kaum Schlaf. Die Schüler lebten von Prüfung zu Prüfung, seien "ausgebrannt". In anderen Studien heißt es, manche Schüler stünden um fünf Uhr morgens auf und gingen um 23 Uhr abends ins Bett. Dazwischen wird gebüffelt, erst Schule, dann Nachhilfe, später noch Hausaufgaben. Auch nach der Schule geht der Stress weiter.

"Unser Schulsystem ist auf Training aus. Pauken, pauken, pauken. Hinterfragt wird nichts", sagt Zhou Ye, Mutter eines Dreijährigen. "Ich wollte so gern Badminton spielen in der Schule, aber die Eltern sagten immer: Wofür Sport? Du musst nur lernen, gut in der Schule sein", erzählt Zheng Jina, Mutter eines Zweijährigen. Zhou und Zheng wollen es bei ihren Söhnen ganz anders machen. Eigentlich. Die eine setzt auf bunte Bilderbücher und nicht, wie im Land üblich, auf "Gedichte aus der Qin-Dynastie für Dreijährige".

Manchmal rasten auch die Eltern aus. Zum Schulanfang gestern kam es zu einer Messerattacke in einer Grundschule in der Provinz Hubei. Ein Vater erstach in der Stadt Yunxi drei Kinder und verletzte fünf weitere Schüler und einen Lehrer. Anschließend sprang er vor dem Schulgebäude in den Tod.

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