Latino-Blues von den Tigern des Nordens

Houston · Los Tigres del Norte singen den Einwanderer-Blues, über kleine Schmuggler, goldene kalifornische Käfige, das Abenteuer Grenzüberquerung. Für die Latinos der Vereinigten Staaten sind sie Superstars, auch wenn der Rest des Landes den Namen noch nie gehört haben mag.

 Mit Pathos begeistern die Tiger des Nordens die Fans. Foto: Herrmann

Mit Pathos begeistern die Tiger des Nordens die Fans. Foto: Herrmann

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Kommt Jorge Hernández richtig in Fahrt, winkelt er gern ein Bein an und steht nur auf dem anderen, wie die Flamingos draußen in den Sümpfen am Golf von Mexiko. Man sieht, wie er grinsend an seinem Akkordeon zieht und den Balanceakt in die Länge zieht, als wäre es ein Kinderspiel. Dann zieht der Sänger seinen samtschwarzen Cowboyhut und hält ihn mit großer Geste über den Kopf, was die Hutträger im Publikum inspiriert, dasselbe zu tun.

Zwei Stunden nach Mitternacht, die Arena dampft. Überall tanzen Pärchen, obwohl es eng ist wie in der sprichwörtlichen Sardinenbüchse. Auf der Bühne singen und spielen vier Brüder, Jorge, Hernán, Eduardo und Luis Hernández, und ein Cousin namens Oscar Lara. Los Tigres del Norte, die Tiger des Nordens. Ein Kritiker hat die Gruppe einmal als Kreuzung zwischen den Rolling Stones und Willie Nelson beschrieben, halb Rock‘n‘Roll, halb Country-Musik. Die Tigres sind viel mehr. Sie sind die Stimme der Latinos , prägnanter, unverwechselbarer als die irgendeines Politikers, der für die in den Staaten lebenden Einwanderer aus Lateinamerika spricht.

Ein Jubelschrei lässt die Hallenwände zittern, als Jorge Hernández, "El Jefe", der Chef, ein Lied ankündigt, das so etwas ist wie ihre Erkennungsfanfare: "Tres Veces Mojado". Eigentlich ist Mojado abwertender Slang, ein Wort, mit dem Tea-Party-Freunde jene Immigranten bedenken, die ohne gültige Papiere über den Rio Grande kommen. Die Tigres singen es mit dem Respekt von Leuten, die genau wissen, was für eine abenteuerliche Reise ein "dreimal Durchnässter" hinter sich hat. Wer aus El Salvador in Richtung Houston aufbricht, muss drei Flüsse durchqueren, den Paz, den Suchiate, den Rio Grande. Vielleicht nicht schwimmend, wie der Text suggeriert, eher in einem Boot. Aber das ist egal, es geht um die Symbolik einer Fahrt, bei der man alles riskiert. Irgendwann flimmern Kurzfilmszenen über die Leinwand hinter der Bühne. Eine Pistole unterm Kopfkissen eines Teenagers. Die nächste Szene zeigt eine Beerdigung, der Junge bezahlte den Krieg zweier Banden mit seinem Leben. Es sind die Verhältnisse, denen Mojados zu entfliehen versuchen.

"Wir sind in Houston ", hatte Jorge Hernández zur Begrüßung in den Saal gerufen. "Wir sind aber auch in Mexiko! In El Salvador ! In Honduras! In Guatemala! In Nicaragua!" Nach jedem Ländernamen brach Jubel los. Dann fasste es der "Jefe" in einem euphorischen Satz zusammen: Im Escapade seien heute die Vereinigten Staaten von Mittelamerika versammelt. Das Escapade ist ein Nachtclub von der Größe einer kleinen Arena. Fünftausend Zuschauer passen hinein, wer Glitzer und Glamour sucht, ist hier falsch. Drinnen Bierpfützen und knarrende Dielen, draußen Industriebaracken, Lagerhallen, der Lärm einer Autobahn. Im Norden, wo das Escapade liegt, ist Houston , ohnehin keine schöne Stadt, noch ein bisschen hässlicher als anderswo.

Im Saal eine Silhouette von Stetsons, breitkrempigen Cowboyhüten, kaum ein männlicher Besucher, der unbehütet zum Konzert erscheint. Die meisten tragen Hemden mit großen Karos, die Mädchen und Frauen fast durchweg Schuhe mit mindestens zehn Zentimeter hohen Absätzen. Und denkbar kurze Röcke. Kündigt El Jefe einen Titel an, reckt sich ihm ein Wald von Stetsons entgegen, als wäre es eine Szene aus einem texanischen Klischeebilderbuch. Und das Publikum singt mit, oft andächtig, melancholisch, wehmütig.

Die Geschichte der Tigres begann damit, dass Jorges Vater, ein Rancher im mexikanischen Bundesstaat Sinaloa, eines Morgens seine Beine nicht mehr bewegen konnte. Nervenprobleme, diagnostizierte ein Arzt, ohne teure Operation nicht zu heilen. Um die Familie über Wasser zu halten, spielten die Söhne in Tequila-Bars, in schwarzen Hosen und weißen Sakkos, so wie sie es heute meistens noch tun. Bald kam das Angebot, vor den mexikanischen Insassen des Soledad aufzutreten, eines Gefängnisses in Kalifornien. Jemand stahl ihre Reisepässe, sie blieben - auch ohne Visum. Jorge ergatterte einen Job bei der Putzkolonne der Universität San José, am Rande des Silicon Valley. Die anderen arbeiteten als Gärtner. 1972 dann der erste Hit, "Schmuggel und Verrat".

Neben Gitarren, Schlagzeug und Saxofon sind es vor allem Akkordeons, die den Klang prägen. Bei aller Tragik des Erzählten, die Balladen der Tigres klingen bisweilen so nüchtern, als wären sie für die Fernsehnachrichten aufgeschrieben.

Vor einem Jahr marschierte die Band an der Spitze einer Demonstration zum Kapitol in Washington, um Druck für eine Einwanderungsreform zu machen. Im Astrodome, einem Stadion in Houston , spielte sie einmal vor 67 000 Zuschauern. Doch der amerikanische Mainstream hat in aller Regel noch nie etwas von ihnen gehört.

"Somos Mas Americanos", kündigt Hernández den nächsten Song an. Es ist die Hymne des Selbstwertgefühls, eines Sich-Luft-Machens angesichts des harten Malocherlebens, das die meisten im Escapade Versammelten führen, in Schlachthöfen, auf Baustellen, in Fastfood-Imbissen. "Sie haben mir tausend Mal zugerufen, dass ich zurückgehen soll in mein eigenes Land, weil hier kein Platz für mich ist. Dabei sind wir amerikanischer als die Kinder der Angelsachsen, denn in unseren Adern fließt indianisches Blut." Oder "Mis Dos Patrias", das Lied von den zwei Vaterländern. "Nennt mich nicht einen Verräter, ich liebe beide. In dem einem habe ich meine Toten zurückgelassen, in dem anderen kamen meine Kinder zur Welt."

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