Freikirchen in Lateinamerika Himmlischer Segen zu höllischen Klängen

Rio de Janeiro · In der Rock-Kirche von Rio trifft Halleluja auf Heavy Metal. Freikirchen sind in ganz Lateinamerika obenauf – aber nicht alle sind so liberal wie diese.

 In der evangelikalen Kirche Metanoia in Rio feiern Gläubige ihre Gottesdienste mit Heavy-Metal-Musik.

In der evangelikalen Kirche Metanoia in Rio feiern Gläubige ihre Gottesdienste mit Heavy-Metal-Musik.

Foto: dpa/Diego Herculano

Ein brachiales Gitarrenriff lässt die Wände erzittern. Laute Rockmusik schallt durch den Raum im ersten Stock eines verwahrlosten Gebäudes in der Favela Maré im armen Norden von Rio de Janeiro. Die Musik Heavy Metal, die Texte tiefreligiös. Rogério Santos holt eine Bibel hervor und beginnt zu beten. Während um ihn herum musikalisch die Hölle losbricht, richtet der Kuttenträger seine Worte gen Himmel.„In Maré gibt es ein großes Bedürfnis nach Spiritualität“, sagt der 47-Jährige. In der evangelikalen Kirche Metanoia (griechisch für Umkehr) findet er die beiden wichtigsten Dinge in seinem Leben: „Musik und Religion“.

Auf den ersten Blick erinnert das Gotteshaus eher an einen Kellerclub: Graffiti und historische Plattencover von den Ramones und Motörhead zieren die Wände, in einer Ecke stehen leistungsstarke Lautsprecher, ein Schlagzeug und Mikrofone. An der Decke aber hängen Kreuze. Jemand hat „Jesus ist der Herr des Underground“ in weißer Farbe an die Mauer gesprüht. „Jesus hat gesiegt“, steht in einem an die Wand gelehnten Sarg. „Gott hat die Kunst und die Musik geschaffen. Der Teufel erschafft nichts“, sagt der Pastor der Kirche, Enok Galvão de Lima. Der Fan von Metallica und Rage Against The Machine hat die Kirche vor fast 30 Jahren gegründet. „Der Rock ist nur ein Stil. Man kann sich dieser Kultur bemächtigen.“

Die Hard-Rock-Kirche von Rio zeigt, welche Kreativität die evangelikalen Kirchen an den Tag legen, um neue Anhänger zu gewinnen. „Mir hat vor allem das kulturelle Angebot gefallen“, sagt die Lehrerin Tainá Domingues, die schon seit 13 Jahren zu den Gottesdiensten kommt. „Hier fühle ich mich wohl.“

Die katholische Kirche ist in ihrer Hochburg Lateinamerika zuletzt unter erheblichen Druck geraten und verliert immer mehr Anhänger an die evangelikalen Bewegungen. Während sich laut Umfragen 1995 noch 80 Prozent der Latinos zu Rom bekannten, waren es im vergangenen Jahr nur noch 59 Prozent. Die evangelikalen Christen kommen bereits auf 19 Prozent. Missbrauchsskandale wie derzeit in Chile haben das Vertrauen in die Amtskirche schwer erschüttert. Zudem wird die katholische Kirche von vielen Gläubigen als distanziert und dogmatisch wahrgenommen, während die charismatischen Evangelikalen mit ihren flammenden Predigten, professionellen Musikshows und aufwendig choreografierten Gottesdiensten ein emotionales religiöses Erlebnis bieten.

„Die Prediger der Pfingst-Kirchen verstehen es, zu den Gläubigen zu sprechen, wie die Menschen in Lateinamerika auch miteinander sprechen. Und sie gleichen ihren Gemeinden. In Guatemala beispielsweise sind viele Prediger Mayas, in Brasilien Afro-Brasilianer. Im Gegensatz dazu werden die Priester der katholischen Kirche als Teil der Elite wahrgenommen“, sagt Andrew Chesnut, Professor an der Virginia Commonwealth University.

Die häufig erzkonservativen Freikirchen versuchen zudem immer stärker, Einfluss auf die Politik zu nehmen. „Ihre Agenda ist auf die Verteidigung von Familien-Werten ausgerichtet. Sie sind gegen Abtreibung, gleichgeschlechtliche Ehe, Scheidung, Sterbehilfe und alles, was sie als Gender-Ideologie bezeichnen“, sagt Carlos Malamud vom spanischen Forschungsinstitut Elcano. Guatemalas Präsident Jimmy Morales ist evangelikaler Christ, Chiles Staatschef Sebastián Piñera wurde mit Hilfe der einflussreichen evangelikalen Kirchen gewählt. Rios strenggläubiger Bürgermeister Marcelo Crivella war Bischof einer Pfingstkirche und fiel durch abschätzige Bemerkungen über Schwarze und Homosexuelle auf. Der kräftige Mitgliederzuwachs der evangelikalen Kirchen macht sie für Politiker immer interessanter – als potenzielle Wählerbecken.

Nicht alle evangelikalen Bewegungen verfolgen indes eine konservative Agenda. Die Rock-Kirche von Rio beispielsweise versteht sich als Anwalt der Unterdrückten und Vergessenen, die anderswo abgewiesen werden. Für Pastor Galvão de Lima ist die Musik dabei einfach ein Werkzeug, um das Evangelium zu lehren und die Frohe Botschaft Jesu zu verkünden. „Mit der Sprache des Rock kann ich viele Menschen erreichen“, sagt der Prediger. Und rockt weiter.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort