"Graue Maus" rührt zu Tränen

London. Sie war kaum auf der Bühne, da hatten sich Publikum und Jury schon ihr Urteil gebildet. Diese Susan Boyle (48) muss an hemmungsloser Selbstüberschätzung leiden, war auf den ungläubigen Gesichtern im Saal abzulesen

London. Sie war kaum auf der Bühne, da hatten sich Publikum und Jury schon ihr Urteil gebildet. Diese Susan Boyle (48) muss an hemmungsloser Selbstüberschätzung leiden, war auf den ungläubigen Gesichtern im Saal abzulesen. Eine Frau mit Doppelkinn, breiten Hüften, einem eckigen Gesicht und unmodernem Kleid träumt von einer Karriere als Sängerin und hofft bei der britischen Casting-TV-Show "Britain's Got Talent" auf ihre Entdeckung. Genervte Blicke bei der Jury. Kichern im Publikum. Und als Juror Simon Cowell, der Dieter Bohlen des Königreichs, auch noch voller Häme fragte, warum es wohl bislang mit der Karriere nichts wurde, hatte er die Lacher auf seiner Seite. Und dann fing Susan Boyle an zu singen. Und verzauberte den Saal und Millionen Menschen an den Fernsehbildschirmen. Es dauerte keine zwei Sekunden. Als Susan Boyle das Lied "I dreamed a dream" aus dem Musical "Les Miserables" anstimmte, rissen die Juroren die Augen auf oder ließen verblüfft das Kinn hängen. Ein paar Sekunden später brandete Jubel beim Publikum im Saal auf, die Menschen sprangen aus ihren Sesseln und brüllten vor Begeisterung. Juror Cowell lächelte selig verträumt, seine Kollegin Amanda Holden musste schlucken und gegen die Tränen kämpfen. Susan Boyle sang wie eine begnadeter Profi, der eher auf den Bühnen der Welt zu Hause ist statt arbeitslos in Schottland zu sitzen. Und Erinnerungen an einen ähnlichen Auftritt vor zwei Jahren wurden wach. In derselben Show war damals ein Handy-Verkäufer namens Paul Potts aufgetreten. Klein, untersetzt, mit schiefen Zähnen trat er an, um Opernsänger zu werden. Und damals wie heute das gleiche Muster: Aus abschätzigen Bemerkungen der Jury wurde rasende Begeisterung. Potts wurde Werbestar, nahm eine Platte auf und tourt nun durch die Welt. Vielleicht hatte Jurorin Holden auch diese Überraschung im Kopf, als sie nach Boyles Auftritt bei der Vorausscheidung der Casting-Show sagte: "Jeder war gegen Dich. Wir sind alle zynisch. Das war der größte Weckruf aller Zeiten. Es war ein Privileg, Dir zuzuhören." Das Urteil der Jury war eindeutig: Ein einzigartiger Auftritt, das Erreichen der nächsten Runde stand außer Frage.Ungeküsst und gehänselt Dabei war Boyle, die von sich selbst sagt, noch nie geküsst worden zu sein und schon als Kind wegen ihres Äußeren gehänselt wurde, mit ihrem Auftritt gar nicht so zufrieden: "Es heißt ja, Fernsehen lässt einen fett aussehen. Und das stimmt auch. Ich sehe wie eine Garage aus. Ich wusste nicht, dass ich Menschen zu Tränen rühren kann, und ich hoffe, das lag nicht daran", sagte sie mit selbstironischem Blick auf ihr Äußeres der Zeitung "Mirror". Und so wurde aus Susan Boyle aus dem Örtchen Blackburn nahe Edinburgh, die bisher nur in Chören, kleineren Clubs oder Karaoke-Wettbewerben sang, über Nacht ein Star. Buchmacher handeln die 48-Jährige bereits als Siegerin, millionenfach wurde das Video ihres Auftritts im Internetportal Youtube angeklickt. Schauspielerin Demi Moore gab sich öffentlich über Twitter als Fan zu erkennen und sagte nach dem Auftritt: "Das hat mir den Abend versüßt."

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