Genießen, nicht schießen

Kassel · Weiße Hirsche sind selten, daher machen selbst Jäger vor ihnen Halt. In Hessen wollen Forscher nun ihr Geheimnis lüften.

 Wer sie tötet, stirbt kurz darauf: Dieser Aberglaube scheint sie zu retten, die wild lebenden weißen Rothirsche im nordhessischen Reinhardswald. Unser Foto zeigt ihre Artgenossen im Tierpark Sababurg. Fotos: Pförtner/dpa

Wer sie tötet, stirbt kurz darauf: Dieser Aberglaube scheint sie zu retten, die wild lebenden weißen Rothirsche im nordhessischen Reinhardswald. Unser Foto zeigt ihre Artgenossen im Tierpark Sababurg. Fotos: Pförtner/dpa

(dpa) Wer einen weißen Hirsch tötet, stirbt innerhalb eines Jahres: Dieser Mythos unter Jägern rankt sich um die außergewöhnlichen Tiere, die es im nordhessischen Reinhardswald in vergleichsweise großer Zahl gibt. Der Aberglaube wirkt offenbar: Laut dem zuständigen Landkreis Kassel ist seit Jahren kein weißer Hirsch mehr geschossen worden.

Weiße Hirsche sind laut dem Deutschen Jagdverband selten: Vor einigen Jahren sorgte die Flucht von "Hansi dem Albinohirsch" aus einem Gehege in Rheinland-Pfalz für Aufsehen. Die Hirsche in Hessens Nordspitze sind keine Albinos: Ihre Farbe rührt nicht von einer Pigmentstörung her. Sie sind wohl eine genetische Laune der Natur.

Licht ins Helle soll eine von der hessischen Landesregierung geförderte Studie der Justus-Liebig-Universität in Gießen bringen. Beim Vergleich weißer und brauner Tiere im Reinhardswald solle mit Analyseverfahren aufgeklärt werden, "ob es sich beim weißen und braunen Rotwild um getrennte Populationen oder um Vertreter einer einzigen Population handelt", erklären die Wissenschaftler. Unterstützt wird das Projekt vom Tierpark Sababurg im Reinhardswald: Er liefert Material in Form von Geweihstangen. Bohrproben aus den Geweihen erlauben Rückschlüsse auf das Erbgut. Der Tierpark besitzt ebenfalls weiße Hirsche. Ob die identisch mit den Artgenossen in den umliegenden Wäldern sind, ist aber unklar. Es gebe zwar das Gerücht, dass es sich um entlaufene Hirsche aus dem Tierpark handele: "Wir vermissen aber keine Tiere", erklärt Zoologin Sandy Rödde.

Laut den Gießener Forschern ist die Verbreitung des weißen Rotwilds im Reinhardswald auf den hessischen Landgrafen Wilhelm IV. zurückzuführen. Der habe Ende des 16. Jahrhunderts die Hirsche dort in einem Tierpark gehalten, dann wurden einige Exem-plare "aufgrund der Wirren des Dreißigjährigen Krieges freigesetzt". Zur Größe des heutigen Bestands gibt es unterschiedliche Angaben, Hessen Forst geht von bis zu 40 Stück aus.

Für Jäger seien die weißen Tiere etwas Besonderes, sagt Rödde, die selbst jagt: "99 Prozent der Jäger genießen es, wenn ein solcher weißer Hirsch vorbeiläuft." Es sei ein toller Anblick, wenn auf eine Lichtung mit braunem Wild plötzlich ein weißer Hirsch trete. Bei älteren Jägern sei der Mythos noch in den Köpfen, dass die Tötung weißer Tiere Unglück bringt.

Der Abschuss von Wild diene dem Schutz des Waldes, erklärt Harald Kühlborn, Sprecher des Landkreises Kassel. Zu viele Tiere schaden dem Wald. Die Jagdbehörde des Kreises legt deshalb die Zahl der erlaubten Abschüsse fest. Bei den weißen Hirschen seien sich Behörden, Naturschützer, Landwirte und Jäger einig gewesen: Sie werden nicht geschossen, weil sie besonders sind. Der Landesbetrieb Hessen Forst sah das anders, denn abgesehen von der Farbe seien weiße Hirsche wie braune. Drei Stück wollte Hessen Forst jagen lassen - und fand dafür keine Zustimmung. Wenn also ein weißer Hirsch plötzlich aus dem Gebüsch tritt, bedeutet das auch künftig für die Jäger: genießen, nicht schießen.

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Nachteile gegenüber Artgenossen 40 weiße Hirsche in einer Region wie dem Reinhardswald in Nordhessen seien "etwas ganz Besonderes", sagt Torsten Reinwald, Sprecher des Deutschen Jagdverbands. Die Tiere seien sehr selten, weil sie gegenüber anderen Hirschen Nachteile hätten: Sie sind durch das weiße Fell leichter zu entdecken und werden von Artgenossen gemieden. "Sie haben so weniger Chancen, sich fortzupflanzen." Anders scheint das im Reinhardswald zu sein: Dort mischten sich die Tiere und lebten friedlich zusammen, sagt Petra Westphal, Sprecherin von Hessen Forst in Kassel. "Es ist möglich, dass ein braunes Muttertier ein weißes Kalb bekommt - und umgekehrt", sagt sie.

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