Großbritannien Auf der Insel geht die Corona-Angst um

London · Die Virus-Krise könnte in Großbritannien sogar noch schlimmer verlaufen als in Italien, fürchten Experten. Das Problem: das Gesundheitssystem.

In Großbritannien (hier das menschenleere Edinburgh) breitet sich das Virus rasant aus.

In Großbritannien (hier das menschenleere Edinburgh) breitet sich das Virus rasant aus.

Foto: dpa/Jane Barlow

Erste Kliniken weisen Patienten ab, Krankenschwestern schützen sich mit Müllbeuteln: In Großbritannien spitzt sich die Coronavirus-Krise zu. „Wir wissen, was auf uns zukommt – und wir wissen, dass das gewaltig sein wird“, zitierte der Fernsehsender Sky News am Wochenende einen Londoner Klinik-Arzt, der anonym bleiben will. Die Lage in Großbritannien könnte ihm zufolge noch verheerender als in Italien werden. Aus Mangel an Kapazitäten und Ausstattung würden er und seine Kollegen künftig Entscheidungen über Leben und Tod treffen müssen, fürchtet er.

Das Gesundheitsministerium kündigte am Wochenende an, dass Menschen, bei denen eine Infektion mit dem neuartigen Erreger etwa wegen Vorerkrankungen besonders gefährlich sein könnte, drei Monate zu Hause in Isolation leben sollen. Betroffen von dieser Maßnahme seien 1,5 Millionen Briten.

Auch Premier Boris Johnson klingt nicht mehr gerade zuversichtlich. Noch vor einigen Tagen hatte er gesagt, dass das Schlimmste im Frühsommer überstanden sein könnte, sollten sich landesweit alle an die Verhaltensregeln halten. Jetzt warnt er davor, dass die Krankenhäuser in zwei bis drei Wochen so überfordert sein könnten wie die in Italien.

Was die Lage im Vereinigten Königreich so prekär macht, ist der desolate Zustand des staatlichen Gesundheitsdienstes NHS (National Health Service). Der vor allem aus Steuermitteln finanzierte NHS war einst ein Aushängeschild des Landes. Doch seit vielen Jahren ist er chronisch unterfinanziert, überlastet und marode. Kritiker sprechen davon, dass das Gesundheitswesen schlicht kaputtgespart worden ist.

So standen in Großbritannien bis vor kurzem nur knapp 5000 Beatmungsgeräte, das sind 6,6 je 100 000 Einwohner, zur Verfügung – das Land belegte damit einen der letzten Plätze in den europäischen Statistiken. Johnson rief in der Not sogar Staubsaugerhersteller und Autobauer auf, solche Apparaturen herzustellen. Am Samstag kamen noch einmal fast 1200 Beatmungsgeräte durch eine Vereinbarung mit privaten Kliniken hinzu. Dennoch dürfte das Prognosen zufolge bei weitem nicht für alle Kranken reichen.

Doch das ist nicht das einzige Problem. Es mangelt auch an Pflegepersonal und Ärzten. Nicht zuletzt wegen des Brexit haben viele medizinische Fachkräfte das Land längst verlassen. In den Wintermonaten, wenn die Grippefälle hinzukommen, steht das Gesundheitswesen regelmäßig kurz vor dem Kollaps. Kritiker werfen Johnson vor, dass er durch seinen Schlingerkurs im Kampf gegen das Coronavirus auch noch wertvolle Zeit verloren habe.

Ein Londoner Krankenhaus musste bereits in der vorigen Woche schwerkranke infizierte Patienten abweisen, weil es keine Kapazitäten mehr hatte. Die erschöpften Krankenschwestern schützten sich dort mit großen, blauen Müllbeuteln vor einer Ansteckung. Es fehlt an Masken, OP-Kitteln und Handschuhen.

Das Coronavirus ist inzwischen in allen Landesteilen des Vereinigten Königreichs aufgetaucht. Mehr als 5000 Menschen sind infiziert, mehr als 200 gestorben. Besonders betroffen ist London, vor allem im Parlamentsviertel und der Umgebung. Und bei weitem nicht alle Verdachtsfälle werden auf den Erreger getestet. Noch bewahren die meisten Briten Haltung – ihre traditionelle „stiff upper lip“. Dass sie sich aber doch große Sorgen machen, sieht man an den Hamsterkäufen im ganzen Land. Weil beim Klopapier bereits ein Mangel herrscht, benutzen immer mehr Menschen alte Zeitungen und Küchenrollen. Das könne die Abwasserkanäle verstopfen, warnte das Unternehmen Northumbrian Water.

Seit Samstag sind landesweit auch alle Bars, Restaurants und Cafés geschlossen, um die Ausbreitung zu bremsen. Auch Nachtclubs, Theater, Kinos, Freizeitzentren sowie Sportstudios dürfen nicht mehr betrieben – und die beliebten Pubs. Von etwas „Außergewöhnlichem“ sprach Premier Johnson. Es sei aber notwendig.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort