Niels Högel Die Gefühlswelt eines Serienmörders

Oldenburg · Der Ex-Pfleger Niels Högel wurde gestern für weitere 85 Morde an Patienten verurteilt. 15 Fälle konnten ihm nicht eindeutig zugeordnet werden.

Zahlen, immer wieder diese Zahlen. „Sterbefall 1“, „Sterbefall 2“ und weiter bis zum „Sterbefall 100“. Eine Liste des Grauens. Hinter jeder Zahl ein Toter, ein Opfer, ein Einzelschicksal. Wie viele Menschen der Ex-Krankenpfleger Niels Högel ermordete, weiß nur er. Und die makabre Wahrheit: Nicht mal er scheint es genau zu wissen. „Keine Erinnerung, kein Ausschluss“, war 52 Mal seine Aussage. Vielleicht hat er diese Menschen getötet, vielleicht auch nicht. Der Prozess gegen den Serienmörder Högel ist mit dem erwarteten Urteil „lebenslange Freiheitsstrafe“ zu Ende gegangen. Es bleiben viele offene Fragen und auch die Furcht, dass die Liste länger ist.

In 85 Fällen sah die Kammer des Oldenburger Landgerichts die Morde als erwiesen an. In 15 Fällen kam das Gericht nicht zu einer „hinreichenden Gewissheit“ und entschied auf Freispruch. Diese Fälle wurden alle nach dem Grundsatz „In dubio pro reo“ (Im Zweifel für den Angeklagten) gefällt, wie Richter Sebastian Bührmann sagte. Vor allem für die Angehörigen ist das schwierig. „Wir entlassen Sie in Ungewissheiten, die für Sie so quälend sein müssen. Wir müssen Ihre Hoffnungen in diesem Moment enttäuschen“, sagte Bührmann.

Frank Brinkers ist einer von den Angehörigen, die in diese Ungewissheit entlassen wurden. Er verlor seinen Vater. „Das ist sehr, sehr bitter“, sagte Brinkers, der nach dem Urteil um Fassung ringen musste. „Ich bin durch die Hölle gegangen, und es ist schwer erträglich.“ Er habe sich gewünscht, dass auch der Fall seines Vaters klar und unumstößlich sei. „Es hat anscheinend nicht sein sollen.“

Um das Strafmaß ging es in dem Prozess vor dem Landgericht Oldenburg nicht in erster Linie. Aufklärung und die Suche nach Wahrheit – mit diesem Anspruch eröffnete die Kammer am 30. Oktober 2018 die Hauptverhandlung. „Wir werden uns bemühen und mit allen Kräften nach der Wahrheit suchen“, versprach Bührmann damals. Der Anspruch konnte nicht ganz erfüllt werden.

Manchmal habe der Strafprozess eher den Charakter einer Wahrheitskommission gehabt, schrieb die „New York Times“ in einer Reportage im vorigen Monat, und ergänzte, dass Högel so viele offene Fragen hinterlasse wie Opfer. Der heute 42-jährige Deutsche tötete von 2000 bis 2005 immer weiter. Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Zuerst suchte er sich die Opfer sorgfältig aus. Später tötete er wahllos. Immer wieder mahnte die Kammer, man dürfe trotz der hohen Opferzahl nie pauschal werden. Immer gehe es um Einzelschicksale. Und so wurde jeder einzelne Fall vor Gericht behandelt. „Ich kam mir vor wie ein Buchhalter des Todes“, sagte Bührmann. „Manchmal reicht die schlimmste Fantasie nicht aus, um die Wahrheit zu beschreiben.“

Högel bekam von seinen früheren Kollegen viele Namen. Einige nannten ihn „Sensen-Högel“, „Todes-Högel“ oder „Rettungs-Rambo“. Warum der Pfleger aber tötete, konnte letztlich auch der Prozess nicht eindeutig klären. Geltungssucht, Selbstüberhöhung, Narzissmus – all dies wurde Högel zugeschrieben.

Seinen Patienten in zwei Kliniken in Oldenburg und Delmenhorst injizierte er Medikamente. Der Zustand der Kranken verschlechterte sich daraufhin binnen Sekunden lebensbedrohlich. Der Alarm schrillte. Högel war meist als Erster im Krankenzimmer und begann mit der Reanimation. Darin war er gut. Und er wollte glänzen vor seinen Kollegen und Lob erfahren. Dass die Menschen starben, nahm er in Kauf.

Es ging ihm um ein Wohlgefühl, eine Hochstimmung, Spannungsaufbau und Spannungsabbau. Unmittelbar nach der Geburt seiner Tochter tötete Högel durch die Manipulation der Medikamentengabe einen Menschen. „Sie wollten damit das Wohlgefühl erhalten, indem sie einen anderen Menschen in den Tod geschickt haben“, resümierte Bührmann. Dieser Fall gewährt einen Blick in die Gefühlswelt des Serienmörders, der nach dem Willen der Angehörigen nie mehr aus dem Gefängnis kommen soll.

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