Tausende Tote Verheerendes Erdbeben in der Türkei – eine Katastrophe mit Ansage

Istanbul · Lange vor dem verheerenden Erdbeben in der Türkei haben Geologen vor einem solchen Szenario gewarnt. Nun wächst die Kritik an der Regierung.

Zerstörung: schwere Erdbeben in Syrien und der Türkei
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Schwere Erdbeben in Syrien und der Türkei

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Foto: dpa/Anne Pollmann

Leichen auf den Straßen, Hilfeschreie aus Trümmerbergen, Obdachlose im Schnee: In Teilen des Erdbebengebietes im Südosten der Türkei bietet sich nach der Katastrophe ein apokalyptisches Bild. Viele Opfer des Unglücks warteten am Dienstag noch darauf, aus zerstörten Häusern befreit zu werden, Lokalpolitiker riefen verzweifelt nach Hilfe. „Wir brauchen Bergungsteams“, forderte Lütfü Savas, Bürgermeister von Antakya, der Hauptstadt der Provinz Hatay an der syrischen Grenze. Außerdem drohe vielen Menschen der Tod durch Unterkühlung, mahnte Savas im Fernsehen.

Forscher in der Türkei warnten seit Jahren vor schwerem Erdbeben

So weit hätte es nicht kommen müssen, sagen türkische Erdbebenforscher. Sie warnten seit Jahren vor einem schweren Erdbeben in der Region, wurden aber ignoriert. Jetzt wächst die Kritik an der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan.

„Hier liegen hunderte Leichen, und tausende Überlebende sitzen im Regen“, berichtete Firat Yayla, ein junger Mann aus Hatay, der sich aus den Trümmern eines zusammengestürzten Hauses befreien konnte, seine Mutter aber dort zurücklassen musste. In der Stadt Malatya, die zu den am schwersten betroffenen Orten gehört, plünderten hungrige Erdbebenopfer die Lebensmittelläden in halb zerstörten Gebäuden, wie die Nachrichtenseite Duvar meldete. In der Kleinstadt Afsin, rund 40 Kilometer nördlich der Stadt Kahramanmaras, des Epizentrums des ersten Bebens vom Montag, mussten Überlebende Schnee schmelzen, weil es kein Trinkwasser gab.

„Wir warten schon so lange auf Hilfe“ – unzählige Erdbebenopfer fühlen sich von den türkischen Behörden im Stich gelassen.

„Wir warten schon so lange auf Hilfe“ – unzählige Erdbebenopfer fühlen sich von den türkischen Behörden im Stich gelassen.

Foto: dpa/Khalil Hamra

Mehr als 50 000 Helfer aus dem In- und Ausland

In Kahramanmaras warf sich eine Frau vor ein Rettungsfahrzeug, um es aufzuhalten: „Wir warten schon so lange auf Hilfe“, schrie sie, wie Aufnahmen der Nachrichtenplattform T24 zeigten. „Warum kommt ihr nicht zu uns? Ihr bringt die Leute um, die noch nicht tot sind.“ Die Familie der Frau werde unter den Trümmern eines Hauses vermisst, meldete T24.

Allein in Hatay wurden etwa 1200 Gebäude zerstört, und die Rettungsarbeiten kamen dort nur langsam voran. Obdachlose übernachteten in Autos, bevor sie am Morgen die Suche nach Verschütteten fortsetzten. Bürgermeister Savas sagte, alle Räumfahrzeuge der Stadtverwaltung seien zwar im Einsatz, aber: „Das ist nichts, was wir als Stadt stemmen können.“

Mehr als 50 000 Helfer aus dem In- und Ausland – darunter Spezialisten aus Deutschland, Israel und Russland – suchten nach türkischen Regierungsangaben am Dienstag im Erdbebengebiet nach Überlebenden. Auch die Armee wurde in den Katastropheneinsatz geschickt. Obdachlose Erdbebenopfer sollen nach Erdogans Worten im südtürkischen Ferienort Antalya in Hotels untergebracht werden, die in der Wintersaison oft leer stehen.

Erdogan verhängt Ausnahmezustand

Der Präsident verhängte über alle betroffenen Provinzen einen dreimonatigen Ausnahmezustand, der ihm das Recht gibt, per Dekret zu regieren und Grundfreiheiten zu beschneiden; zuletzt hatte er nach dem Putschversuch von 2016 den Ausnahmezustand verhängt. Der Verfassungsrechtler Zafer Üskül sagte dem Journalisten Ismail Saymaz, die Regierung solle den Ausnahmezustand nutzen, um private Räumfahrzeuge für die Rettung von Erdbebenopfern und leerstehende Gebäude für die Unterbringung von Überlebenden vorübergehend zu requirieren.

Hin und wieder melden die Bergungsteams einen Erfolg. In Hatay konnte ein Rettungsteam aus Istanbul am Dienstag ein achtjähriges Mädchen lebend aus einem zerstörten Haus ziehen, und auch andernorts konnten Opfer lebend aus den Trümmern befreit werden. Doch die Zerstörungen reichen von Adana an der Mittelmeerküste bis Diyarbakir rund 400 Kilometer weiter östlich. Dazwischen liegen Gegenden wie Hatay und die Provinzen Kahramanmaras und Adiyaman, wo besonders viele Häuser in sich zusammenbrachen. Dort fehlt es vielerorts an Benzin und Strom.

Unterdessen machten sich tausende Türken mit ihren Autos ins Unglücksgebiet auf, um Verwandte zu suchen. Wegen des Verkehrs sperrten die Behörden die Straßen in besonders betroffenen Regionen für alle Fahrzeuge, die nicht zu den Bergungsteams gehörten.

Tausende Tote in der Türkei und in Syrien

Von 3549 Todesopfern berichteten die türkischen Behörden bis zum Dienstagnachmittag; von der syrischen Seite der Grenze wurden 1600 Tote gemeldet. Internationale Organisationen schätzen, dass das ganze Ausmaß des Unglücks noch nicht erfasst worden ist. Aus Teilen der Türkei und Syriens gebe es immer noch keine Informationen über Opfer und Schäden, sagte der Chef der Weltgesundheitsorganisation WHO, Tedros Adhanom Ghebreyesus, am Dienstag in Genf. Die Suche nach Überlebenden sei „ein Wettlauf gegen die Zeit“. Das UN-Kinderhilfswerk Unicef erklärte, das Beben habe möglicherweise Tausende Kinder in der Türkei und in Syrien getötet.

Der Geologe Naci Görür brach in Tränen aus, als er von dem Erdbeben hörte. Er habe lange geweint, sagte der 76-Jährige dem türkischen Sender Fox-TV – nicht nur um die Toten, sondern weil das Unglück viel weniger Menschen das Leben gekostet hätte, wenn der Staat richtig vorbereitet gewesen wäre. Es sei absehbar gewesen, dass die Gegend um Kahramanmaras in höchster Gefahr sei: „Jeder vernünftige Geologe in der Türkei, jeder Geophysiker hat das gewusst und gewarnt.“

Heftige Kritik an der Regierung

Görür ist ein Rufer in der Wüste. Seit drei Jahren warnte er auf der Grundlage von Daten früherer Erdbeben, dass der nächste schwere Schlag Kahramanmaras treffen werde. Zuletzt hatte er drei Tage vor dem Unglück seine Warnung wiederholt. Doch die Behörden ignorierten ihn. „Ich habe mir den Mund fusselig geredet“, um regionale Behörden und die Regierung in Ankara zu warnen, sagte er. Doch die Mühe war vergebens. „Nie hat einer auch nur gefragt, was passieren kann und was man dagegen unternehmen kann – nichts.“

Warum hat niemand reagiert? Görürs Kollege Celal Sengör sieht ein ideologisches Problem hinter der Untätigkeit. „Um der Erdbebengefahr zu begegnen, muss man verstehen, womit man es zu tun hat“, sagte Sengör im Fernsehsener Habertürk. Die naturwissenschaftliche Ausbildung müsse in der Grundschule beginnen, doch die Regierung habe Erdkunde zugunsten von mehr Religion aus dem Lehrplan gestrichen – „ein Verbrechen“.

Der Staat unternehme nichts, kritisiert Habertürk-Moderator Fatih Altayli. Nach der Katastrophe von Kahramanmaras werde nun von den Politikern sicher wieder zu hören sein, dass alles Nötige unternommen werde. Dabei stürzten bei dem Beben sogar staatliche Gebäude wie Krankenhäuser und Rathäuser in sich zusammen, der Flughafen in Hatay ist wegen Erdbebenschäden nicht benutzbar. Der Vorsitzende der türkischen Bauingenieurs-Kammer, Taner Yüzgec, warf der Regierung im Interview mit T24 vor, sie habe bei öffentlichen Gebäuden nicht die vorgeschriebenen Erdbebenverstärkungen veranlasst. Ohne diese Verstärkungen hätten die Gebäude abgerissen und neu gebaut werden müssen, aber auch das sei nicht geschehen.

Erdogan weist die Kritik zurück

Erdogans Regierung bestreitet Versäumnisse. Das einzige Problem seien die Falschinformationen in den sozialen Medien, sagte Finanzminister Nureddin Nebati bei einem Besuch im Unglücksgebiet.

Weil das offensichtlich nicht stimmt, wächst der Unmut über die Regierung. „Man hat uns im Stich gelassen“, sagte der Oppositionspolitiker Baris Atay, der die Provinz Hatay für die Linkspartei TIP im türkischen Parlament vertritt.

Die Katastrophe dürfte zum Wahlkampfthema werden. Am Dienstag besuchte Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu, der bei der Präsidentschaftswahl am 14. Mai gegen Erdogan antreten will, das Erdbebengebiet. Bisher blockt Erdogan die wachsende Kritik an Mängeln bei den Rettungsarbeiten mit dem Hinweis auf die Dimension der Katastrophe ab: Das Unglück vom Montag sei „eines der größten der Weltgeschichte“ gewesen.

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