Eins plus Eins gleich Gefängnis

Schwerin · Wegen eines Streits um ein Mathe-Rätsel im Internet ist ein junger Mann in Wismar auf offener Straße niedergestochen worden. Der Täter bekommt sechseinhalb Jahre Haft. Doch es bleiben viele Fragen offen.

 Mit Fußfesseln im Gericht: Nun wandert der Messerstecher für Jahre hinter Gitter. Foto: dpa

Mit Fußfesseln im Gericht: Nun wandert der Messerstecher für Jahre hinter Gitter. Foto: dpa

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Zwei Fremde streiten auf Facebook um die Lösung einer Matheaufgabe, beleidigen einander heftig - und treffen am nächsten Tag zufällig auf der Straße zusammen. Der eine erkennt den anderen am Profilbild, zückt spontan ein Schälmesser und sticht zu. Das 19 Jahre alte Opfer muss zweimal operiert werden, überlebt knapp. Für die Attacke am 13. April in Wismar ist der 29 Jahre alte Täter am Freitag vom Landgericht Schwerin zu sechseinhalb Jahren Haft wegen versuchten Totschlags und gefährlicher Körperverletzung verurteilt worden.

Täter und Opfer kommen aus Wismar. Ein junger Mann, der beide kennt, hatte dem 29-Jährigen das Matherätsel auf der Facebook-Seite des späteren Opfers gezeigt. Es heißt: "Die Hälfte meiner Zahl ist die Hälfte von 400." Der Prozess hat nicht alle Fragen des Vorsitzenden Richters Otmar Fandel beantwortet. "Warum ist das passiert?", fragte er zu Beginn der Hauptverhandlung im Oktober und noch einmal bei der Urteilsverkündung am Freitag. Warum hat der 29-Jährige nach dem eigentlich schon beendeten Zoff im Netz zwei Mal und so heftig zugestochen, dass der zehn Jahre Jüngere so große Mengen Blut und eine Niere verlor? "Als Unbeteiligter kann man das nicht nachvollziehen", sagte Fandel. Schlimme und auch zynische Beleidigungen seien nicht ungewöhnlich auf Facebook .

Dass Streitigkeiten im Internet zu realer Gewalt führen, ist nach Worten des Greifswalder Kriminologen Frieder Dünkel die Ausnahme. Das Netz könne jedoch im Einzelfall Hemmschwellen senken, sagte er.

Der Verurteilte ist ein unauffälliger, blasser Brillenträger. Er korrigiere häufig andere und wirke mitunter belehrend, sagten Freunde von ihm während des Prozesses aus. Sie schilderten ihn zugleich als besonnen und ruhig. Der 29-Jährige mit dem Hobby Computerspielen war noch nie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen. Bis zur Tat arbeitete er unter der Woche als Maler in Dänemark.

Er hat eine Verlobte in Wismar und ein wenige Wochen altes gemeinsames Kind und träumte von einem Haus. Seine Eltern stehen zu ihm, die Mutter umarmt ihren Sohn nach der Urteilsverkündung und gibt ihm einen tröstenden Kuss. Die Tat hat der Mann gestanden und sich beim Opfer entschuldigt. "Es tut mir wirklich leid, was da passiert ist. Das wollte ich nicht", hatte er in seinen letzten Worten während des Prozesses gesagt.

Richter Fandel hat bei dem Verurteilten ein gewisses Gefühl der Überlegenheit anderen Menschen gegenüber beobachtet. In seiner Bewertung des Opfers als Taugenichts, Drogenabhängigen und Schulabbrecher habe es der 29-Jährige offensichtlich nicht akzeptieren können, dass dieser ihn im Netz heftig beleidigte. "Hier dürfte der Punkt gelegen haben, warum es zu dieser Tat gekommen ist", sagte Fandel. Doch es bleibe die Frage: "Was hat er sich dabei bloß gedacht?"

Die Verteidigung kündigte Revision an. Die Anwälte des 29-Jährigen hatten die Tat in ihrem Plädoyer lediglich als gefährliche Körperverletzung bewertet und eine Strafe von maximal zwei Jahren gefordert. Die Anklage wollte drei. Es wurden sechseinhalb.

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