Interview Nicolas Wiedmer „Es gibt eine Sehnsucht nach Persönlichem in der digitalen Welt“

Berlin · Der Doktorand an der Uni Zürich hat Postkarten zu seinem Forschungsgegenstand gemacht und festgestellt: Sie sind noch längst nicht out.

 Nimmt Postkarten unter die Lupe: Nicolas Wiedmer, Doktorand an der Universität  Zürich.

Nimmt Postkarten unter die Lupe: Nicolas Wiedmer, Doktorand an der Universität Zürich.

Foto: Jos Schmid

Postkarten sind im digitalen Zeitalter doch out. Sind sie nicht, sagt Nicolas Wiedmer, Doktorand an der Universität Zürich. Zusammen mit der Technischen Uni Dresden arbeitet er an einem Forschungsprojekt, dass die Entwicklung der Ansichtskarte kulturwissenschaftlich untersucht. Dafür wurden14 000 Karten seit 1930 unter die Lupe genommen.

Herr Wiedmer, was macht die Postkarte so einzigartig?

WIEDMER Sie ist einfach eine tolle Textform. Vor allem aber handelt es sich um persönliche handschriftliche Dokumente. Man muss ein Motiv aussuchen, die Karte kaufen, sich überlegen, was man schreiben will, weil man nur begrenzt Platz hat. Man kann ja nicht löschen wie bei den digitalen Nachrichten.

Sind Postkarten nicht out? Alle Welt nutzt doch Whatsapp und schickt darüber auch Urlaubsfotos.

WIEDMER Nein, Ansichtskarten finden immer noch Verwendung. Das hat auch etwas mit der Materialität zu tun. Postkarten kann man zu Hause oder im Büro aufhängen. Es gibt eine Sehnsucht nach Persönlichem in der digitalen Welt. Das haben wir festgestellt. Und das gibt der Postkarte eine gute Überlebenschance.

Machen Postkarten also mehr Freude als Handynachrichten?

WIEDMER Ja, das geht zumindest vielen Menschen so. Postkarten machen Freude. Wir kriegen unzählige Whatsapp-Nachrichten tagtäglich, aber selten finden wir eine Karte im Briefkasten. Das macht sie zu etwas Besonderem.

Wie haben sich die Karten im Laufe der Jahrzehnte verändert?

WIEDMER Ganz am Anfang gab es nur eine Bild- und eine Adressseite, aber keinen Platz für einen Text. Also haben die Leute noch etwas auf die Bildseite geschrieben. Dann wurde ein kleines Feld für Nachrichten angebracht, und schließlich erkannten die Hersteller, dass es doch ein großes Mitteilungsbedürfnis gab. In der Folge wurde die Adressseite dann aufgeteilt – und es kam zu der Form von Ansichtskarte, die wir auch heute noch kennen.

Ist das, was die Menschen aus dem Urlaub geschrieben haben, auch anders geworden?

WIEDMER Da hat sich im Laufe der Jahre viel verändert. Früher fokussierte sich der Schreiber noch sehr stark auf die Reise. Zum Beispiel ging es darum, wie abenteuerlich das Gelangen von A nach B war. Die Postkarte war vor allem dazu da, seinen Lieben mitzuteilen, dass man gut angekommen war. Viele Dinge, die man heute durch einen Anruf erledigt, wurden damals ebenfalls auf die Karte geschrieben. Wie Bitten, doch noch das eine oder andere zu besorgen.

Und heute?

WIEDMER Es gibt auch auf den Postkarten einen Trend zur Selbstdarstellung und zur Bewertung, wie man den Urlaub findet, ob man ihn genießt oder nicht. Das kennen wir ja auch aus den digitalen Nachrichten. Die Erlebnisse stehen nicht mehr so im Vordergrund.

Hat sich auch die Sprache verändert?

WIEDMER Eindeutig. Es gibt eine Emotionalisierung der Sprache auf den Postkarten. In den 1950er Jahren ist alles lediglich gut gewesen. Heute ist alles super, genial oder wunderbar.

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