Die tödliche Angst vor der Trennung

Stuttgart · Was treibt eine Mutter dazu, ihre beiden kleinen Kinder zu töten und zu versuchen, sich selbst das Leben nehmen? Einmal mehr sucht ein Prozess nach einer Antwort. Kann Trennungsangst der Grund sein?

Sie habe sich über Gott gestellt. Vom Himmel habe sie sicher keine Vergebung zu erwarten. So zitiert ein Gutachter die 41-Jährige, die seit gestern in Stuttgart wegen Doppelmords vor Gericht steht. Vor einem halben Jahr soll sie bei Esslingen in Baden-Württemberg ihre beiden Töchter, sieben und zehn Jahre alt, erstochen haben - was sie selbst auch schon eingeräumt hat. Vor Gericht geht es in den nächsten Wochen nicht mehr um das Ob, sondern maximal noch um das Warum. Der Gutachter zitiert weiter: Sie schäme sich, möchte im Boden versinken. Sie wisse, sie habe "alles kaputt gemacht".

Anita N. selbst sagt an diesem Morgen im Landgericht nichts. Nicht zur Person. Nicht zum Tatvorwurf. Meist schaut sie zu Boden. Ab und an kämpft sie mit den Tränen, beißt die Lippen aufeinander, schaut zur Decke. Immer wieder streicht sie ihre langen dunklen, etwas grauen Haare zurück. Erst heute, beim nächsten Prozesstag, soll eine Erklärung von ihr verlesen werden.

1. November 2014: Die 41-Jährige ist mit ihren Kindern allein, der Ehemann mehrere Tage verreist. Laut Anklage gibt die Frau ihren Töchtern ein Schlafmittel. In der Nacht geht sie zunächst an das Bett der ältesten Tochter und versucht, ihr mit einem Messer die Pulsadern aufzuschneiden. Doch die Zehnjährige wacht auf, wehrt sich heftig gegen den Angriff. 40 Mal sticht die Mutter zu. Danach geht sie ins Zimmer von Lorena. Im Schlaf sticht sie der Siebenjährigen elf Mal in den Rücken. Die Mutter kleidet die toten Mädchen an, legt sich mit ihnen auf eine Schlafcouch und will sich die Adern aufschlitzen. Das misslingt. Sie ruft schließlich selbst den Notarzt.

Aber was trieb Anita N. zu dieser unfassbaren Tat? Die Familie sei ihr Ein und Alles gewesen, berichtet Gutachter Peter Winckler aus den Gesprächen mit der Frau nach der Tat. Ihre Kinder zu verlieren, sei für sie eine unerträgliche Vorstellung gewesen. Doch genau das hätte passieren können: Nach knapp zehn Jahren Ehe habe ihr Mann mit der Trennung gedroht. Die Kinder könnten sich ja dann selbst entscheiden, wo sie hinwollten, habe er gesagt. Für die 41-Jährige war damit klar: Wenn sich die Mädchen entscheiden müssten, würden sie zum Vater gehen. Sie sei strenger gewesen, habe Grenzen gesetzt. Er sei mehr der Verwöhnpapa gewesen.

Eine Trennung hätten ihre Kinder nicht verkraftet, erzählte Anita N. dem Gutachter. Sie selbst sei in ihrer Kindheit hin- und hergeschubst worden. Sie wuchs bei den Großeltern und einem Onkel in Serbien auf, während ihre Eltern schon in Deutschland waren. Mit 13 kam sie nach, machte später den Hauptschulabschluss und eine Lehre zur Verkäuferin, die sie aber nicht abschloss. Sie jobbte mal hier, mal da. Eine intakte Familie habe sie als Kind nie gehabt. Diese wollte sie aber immer ihren Kinder bieten. Am 2. November 2014 zerstörte sie selbst diesen Traum.

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