Die große Schummelei

Moskau · Vor fünf Jahren führte Russland das Zentral-Abitur mit Multiple-Choice-Fragen auf automatisch auswertbaren Testbögen ein. Die Korruption hat damit auch die Schulen erreicht: Tests werden gehackt, Lehrer verkaufen Lösungen für die Aufgaben.

Alles sollte besser werden. Übersichtlicher. Gerechter. Kinder aus entlegenen Dörfern sollten die Chance bekommen, an renommierte Universitäten in der Hauptstadt zu kommen, Sprösslinge von Reichen sich nicht noch an den Hochschulen des Landes einkaufen dürfen. Der Korruption zwischen Hörsaal und Professorenstube sollte mit der Abitur-Reform der Garaus gemacht werden. Doch seitdem taumelt Russlands Hochschulreife von einem Skandal zum nächsten.

Die Pläne von Russlands Bildungsministerium waren hochtrabend, damals vor fünf Jahren, als die Beamten das vermeintliche Wunderwerk "JeGE", Russlands Zentral-Abitur, vorstellten. Damit führte das größte Land der Erde die angelsächsische Test-Tradition ein, mit Multiple-Choice-Fragen und automatisch auswertbaren Testbögen. Doch es kam, wie so oft in den russischen Weiten von Kaliningrad bis nach Wladiwostok, von Murmansk bis nach Sotschi. Das Werk entpuppte sich als undurchsichtig und betrügerisch. Die Korruption hat sich von den Unis, wo manche Professoren bei früheren Eingangsprüfungen für Geld und Geschenke die Plätze freihielten, auf die Schulen verlagert. Die Tests werden gehackt, viele Lehrer verkaufen Lösungen für die Aufgaben.

Bereits beim Russisch-Abi vergangene Woche waren Tage vorher die gesamten Unterlagen an die Öffentlichkeit gelangt. In Windeseile verbreiteten sich die Aufgaben über das Facebook-Äquivalent "Vkontakte". In Mathematik wenige Tage später ein ähnliches Bild. Gestern saßen schließlich hunderttausende Schüler über ihren Physik-Aufgaben. Zwei Tage zuvor waren alle Aufgaben in sämtlichen vier Regionalversionen - von Fernost über Sibirien und Ural bis Zentralrussland - als pdf-Dateien im Netz zu finden. Selbst Ministerpräsident Dmitri Medwedew zeigte sich schockiert über die Ausmaße. "Das ist ein Riesenschaden. Das große Abschreiben hat begonnen", sagte er und schlug vor, alle, die die Aufgaben weiterverbreitet hätten, nächstes Jahr nochmals zu prüfen. Schon tauchten Vorschläge auf, Spezialeinheiten als Wachen in die Schulen zu schicken.

Für die Schüler entscheiden die "JeGE"-Punkte vieles: Welche Uni ihnen offensteht, ob sie Schulgebühren zahlen müssen oder nicht. Die Tricks für eine gute Note sind vielfältig. Manche Lehrer schicken ihren Schülern E-Mails mit dem Angebot, für 200 Rubel (etwa 5 Euro) jeweils eine Lösung zu verraten. Schüler aus Fernost, die - wegen der Zeitverschiebung - ihre Arbeiten längst abgegeben haben, während die Abiturienten in Moskau erst aufstehen, fotografieren die Aufgaben und stellen sie ins Internet. Auch der sogenannte "JeGE"-Tourismus blüht. Weil die Tarife auf dem Dorf niedriger sind, wechseln viele vorher auf eine Dorfschule, ließen sich dort nicht blicken, zahlten am Abi-Tag - und gingen mit einer guten Note nach Hause.

In Dagestan im Nordkaukasus, so berichtet die Zeitschrift "Tschernowik", löse auch schon mal eine ganze Familie die Aufgaben, die ihr Schützling per Handy schicke. Das Benutzen des Telefons während der Prüfung koste bis zu umgerechnet 250 Euro, das Heraustragen der Testbögen bis zu 1000 Euro. Einen fertig ausgefüllten Test gibt es für etwa 1750 Euro.

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