Die Folgen der Atomkatastrophen

Fukushima/Berlin · Zehntausende Menschen werden noch an den Folgen des Atomunfalls in Japan sterben: Davon ist die Ärzteorganisation IPPNW überzeugt. In einem Bericht kritisiert sie auch die enge Verbindung von Atomindustrie und japanischer Regierung.

Vor 30 Jahren ereignete sich die Atomkatstrophe in Tschernobyl. Vor fünf Jahren kam es zum Super-Gau im japanischen Fukushima. Die gesundheitlichen Folgen beider Katastrophen dauern nach einem aktuellen Bericht der internationalen Ärzteorganisation zur Verhütung eines Atomkrieges (IPPNW) bis heute an. Der Bericht, der gestern in Berlin vorgestellt wurde, kommt zu dem Schluss, dass schon sehr kleine Strahlendosen zu deutlich höheren Risiken für Krebs, Herzkreislauferkrankungen, Säuglingssterblichkeit sowie Fehlbildungen bei Neugeborenen führen. Die Verfasser der Studie weisen allerdings drauf hin, dass eine umfassende Analyse der gesundheitlichen Folgeschäden von Tschernobyl durch politische Geheimniskrämerei und Verharmlosung in der Ex-Sowjetunion erschwert wird. Und auch in Japan setze "die mit der Atomindustrie eng verflochtene Regierung alles daran, die Akte Fukushima so schnell wie möglich zu schließen", heißt es in dem Bericht.

Täglich fließen in Fukushima immer noch rund 300 Tonnen radioaktives Abwasser ins Meer. Seit Beginn der Katastrophe sind es mehr als 500 000 Tonnen. In der Präfektur Fukushima kam es zu einem besorgniserregenden Anstieg der Neuerkrankungen an Schilddrüsenkrebs bei Kindern. Bislang wurden 115 Fälle bestätigt. Weitere 50 Kinder mit Krebsverdacht warten auf eine Operation. Andere Folgeschäden als Schilddrüsenkrebs bei Kindern hat die japanische Regierung laut IPPNW-Bericht ausgeschlossen. Deshalb gibt es auch kein Register, in dem die Bevölkerungsgruppen regelmäßigen Gesundheitschecks unterzogen werden.

Die Experten rechnen für ganz Japan im Laufe der nächsten Jahrzehnte mit knapp 10 000 zusätzlichen Krebsfällen. Das ist aber eher ein optimistisches Szenario. "Nutzt man andere Daten und realistischere Risikofaktoren, kommt man auf deutlich höhere Zahlen, etwa bis zu 66 000 zusätzlichen Krebsfällen, davon zirka die Hälfte mit tödlichem Verlauf", so die IPPNW-Prognose.

Auch 30 Jahre später sind immer noch Millionen Menschen von der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl betroffen. Allein 350 000 Menschen wurden damals aus einer 30-Kilometer-Zone und weiteren sehr stark verseuchten Regionen evakuiert. Von den mehr als 830 000 Aufräumarbeitern sind bislang mindestens 112 000 gestorben.

Auch auf die Geburten habe die Katastrophe Auswirkungen. Durch die Strahlenbelastung würden deutlich weniger Mädchen geboren. Laut Bericht entspricht die Lücke zwischen 1987 und 2011 in ganz Europa rechnerisch etwa 500 000 weniger Mädchen. Davon etwa 23 000 in Deutschland. Noch heute würden pro Jahr in Europa rechnerisch 20 000 Mädchen weniger geboren als vor der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl.

"Die Gesundheitsrisiken müssen von unabhängigen Wissenschaftlern untersucht werden, und jeder Verdacht auf Beeinflussung durch die Atomindustrie und ihre politischen Unterstützer muss ausgeschlossen sein", forderte die IPPNW-Europa-Vorsitzende Angelika Claußen.

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