Belgische Mordserie Der „Riese“ von Nivelles ist tot

Brüssel · Gut 30 Jahre nach der Mordserie „der Killer von Brabant“ sind in Belgien neue Hinweise aufgetaucht. Eines der schlimmsten belgischen Serienverbrechen könnte die Polizei vielleicht bald aufklären.

Es sind die Schatten einer dunklen Vergangenheit, die Belgien gerade einholen. Erinnerungen an die schreckliche Zeit zwischen 1982 und 1985, an den „Riesen“, den „Killer“ und den „Alten“ – besser bekannt als die „Bande von Nivelles“, jenem Ort 40 Kilometer von Brüssel entfernt. Alles wird gerade wieder wach, Augenzeugen von damals schildern noch einmal, dass sie sich abends „nicht mehr vor die Türe trauten“. Doch nach 32 Jahren scheint die Polizei nun vor der Lösung zu stehen. Offenbar durch einen Zufallstreffer.

Die meisten der Anschläge verliefen damals nach dem gleichen Muster. Wie beispielsweise am 9. November 1985. Bei einem Überfall auf einen Supermarkt der Delhaize-Kette starben innerhalb von 20 Minuten acht Menschen, darunter ein 13-jähriger Junge. Etwa zwei Monate zuvor tauchten die mit Karnevalsmasken getarnten Täter innerhalb von einer halben Stunde in zwei Geschäften der gleichen Einzelhandelskette auf und schossen auf jeden, der sich nicht schnell genug in Deckung brachte. Manche Schüsse seien regelrechte Hinrichtungen gewesen, hieß es später. Doch so überraschend, wie die Serie begann, die insgesamt 28 Menschen das Leben kostete und über 20 weitere verletzte, endete sie wieder. Möglicherweise sei einer der Täter schwer verletzt worden und gestorben.

Eine 100-köpfige Sonderkommission ermittelte, die Ergebnisse füllen fast zwei Millionen Seiten. Doch ein Fahndungserfolg blieb aus. Und so wuchsen wilde Gerüchte. Bei dem offensichtlichen Anführer – wegen seiner Körpergröße „Riese“ genannt – soll es sich um ein Ex-Mitglied der Elite-Polizeieinheit Reichswache handeln, die zu der Anti-Terror-Gruppe „Diane“ zählte. Sie hatte die belgische Regierung nach dem Olympia-Attentat in München 1972 ins Leben gerufen. Befürchtungen, die Täter würden „von oben“ gedeckt, machten die Runde. Der Hintergrund: In einigen Kreisen wurde vermutet, das Killer-Kommando solle für Angst und Verunsicherung sorgen, damit das Land für einen Umsturz von rechts offen würde. Das gleiche Gerücht tauchte Mitte der 90er Jahre wieder auf, als der mehrfache Kindermörder Marc Dutroux endlich verhaftet wurde. Das Land war zutiefst verunsichert.

Am vergangenen Samstag strahlte der Privatsender VTM ein Interview mit einem nicht näher genannten Informanten aus, der unter Tränen gestand, der Bruder des „Riesen“ zu sein. Vor zweieinhalb Jahren habe dieser ihm auf dem Sterbebett gebeichtet, Mitglied der Killerbande gewesen zu sein. Wirklich neu ist der Name des möglichen Attentäters nicht. Schon 1999 tauchte er erstmals in den Ermittlungsakten auf, ein Opferanwalt bekräftigte, er habe den Sicherheitsbehörden schon damals einen Tipp gegeben. Doch die hätten „nichts getan“.

Neben der Aussage kamen auch neue Hinweise ans Licht. Jugendliche hätten im Mai im Kanal Brüssel-Charleroi zwei Kisten mit Waffen und Munition entdeckt und sich jetzt gemeldet, teilte die Staatsanwaltschaft Lüttich mit. Am vergangenen Donnerstag untersuchten Taucher die Fundstelle. In der Nähe waren schon 1986 Beweismittel sichergestellt worden. Damit gehen die Ermittlungen in einem der undurchsichtigsten Kriminalfälle der belgischen Geschichte in die nächste Runde. Trotzdem gestalten sich die Ermittlungen weiter zumindest schwierig, auch wenn die Polizei in dieser Woche in Dendermonde Passanten mit dem Bild des „Riesen“ befragte, und obwohl inzwischen Waffen und weitere „Objekte“ in einem Kanal der Region gefunden wurden.

Doch nach wie vor scheint eine der wichtigsten Fragen ungeklärt: Welches Motiv hatten die brutalen Killer? Bei ihren Überfällen ließen sie zwar mal Tee, Champagner und auch Juwelen mitgehen. Zwei Mal räumten sie auch die Kassen aus – doch sie erbeuteten nie große Summen. Einmal sollen es umgerechnet 30 000 Euro gewesen sein. Vor allem deshalb gehen die Spekulationen weiter. Sogar eine Verbindung zur Gruppe „Rosa Balletten“ wurde konstruiert. Unter diesem Namen sollen in der 80er und 90er Jahren prominente Belgier, Politiker, Industrielle und gesellschaftliche Würdenträger Sexpartys mit Minderjährigen veranstaltet haben. Auch von Waffenhandel ist die Rede. Bewiesen wurde all das nie. Auch bei der Aufdeckung des Falles Dutroux nicht. Noch ist offen, ob Belgien nach den Hinweisen des Informanten eine der schlimmsten Verbrechensserien Europas abschließen kann. Die Sehnsucht danach ist groß.

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