Britische Promis in Verruf

London · Großbritannien knabbert an seinem Missbrauchs-Problem. Fast alles, was die Briten stolz macht, ist betroffen. Der Musiker Gary Glitter ist ein weiterer Fall – doch es gibt noch spektakulärere.

Grauer Mantel, graue Wollmütze, grauer Bart: Viel Glitzer war da nicht mehr, als Paul Gadd gestern vor dem Southwark Crown Court im Londoner Süden erschien. Unter dem Künstlernamen Gary Glitter hatte sich der heute 70-Jährige in den 70er Jahren einen Status als Glamour-Popstar erarbeitet. Diesen nutzte er, um blutjunge Groupies ins Bett zu bekommen. Eine Frau wirft ihm vor, versucht zu haben, sie im Jahr 1979 zu vergewaltigen. Damals war sie zwölf Jahre alt.

Glitter ist vor Gericht ein alter Bekannter. Ende der 90er Jahre in Großbritannien und 2007 in Vietnam wurde er bereits zu Haftstrafen verurteilt. Sein Name wird im britischen Register für Sexualstraftäter geführt. Der zäh begonnene neue Prozess in London , der am Montag und gestern noch nicht so recht in Gang kam und dessen Ende nicht vor Ablauf mehrerer Wochen zu erwarten ist, ist ein neuer Ausweis für das Ausmaß des britischen Missbrauchsskandals.

Der Einzelfall Glitter ist nur ein Mosaiksteinchen im Gesamtbild. Betroffen ist so ziemlich alles, worauf die britische Gesellschaft stolz ist: Die Musikbranche und die BBC, das Gesundheitssystem NHS, das Parlament und die Regierung. Mit Prinz Andrew wird sogar ein Sohn von Queen Elizabeth der Unzucht mit einer Minderjährigen bezichtigt, wobei der Buckingham-Palast die Vorwürfe als "völlig falsch" zurückweist.

In den 70er Jahren missbrauchten Musik- und Fernsehgrößen junge Mädchen. Der Entertainer und Moderator Rolf Harris sitzt im Alter von 84 Jahren im Gefängnis, über den ehemaligen Star-Moderator Jimmy Savile, dessen Taten die Ermittlungen ins Rollen gebracht hatten, wurden nach seinem Tod fast unglaubliche Wahrheiten bekannt. Sogar an Leichen soll sich der weißblonde Exzentriker ("Top of the Pops") vergangen haben.

Im Regierungsviertel Westminster soll sich über Jahre ein großes Pädophilen-Netzwerk gehalten haben. Drei Kinder sollen dabei sogar getötet worden sein, Scotland Yard ermittelt wegen Mordes. Auf mysteriöse Weise verschwanden Unterlagen und Aufzeichnungen. Innenministerin Theresa May spricht über das, was bisher bekannt ist, als "der Spitze des Eisbergs". Die Täter kommen oft aus dem Establishment. In zahlreichen englischen Städten machten Taxifahrer Heimkinder mit billigem Alkohol gefügig und beuteten sie sexuell aus. Im nordenglischen Rotherham musste der Polizeichef gehen, weil seine Leute tatenlos zuschauten.

Premierminister David Cameron setzte eine riesige Kommission ein, die die gesamte Situation rückhaltlos aufklären soll. Doch der Regierungschef fiel auf die Nase. Mit Fiona Woolf trat auf Druck von Opfer-Vertretern im Herbst nach wenigen Wochen schon die zweite hochrangige Richterin vom Posten des Kommissionsvorsitzes zurück. Sie war eine Freundin von Ex-Innenminister Leon Brittan, unter dem in den 80er Jahren wichtige Beweise vernichtet worden sein sollen. Ihre Vorgängerin war wegen ähnlicher Beziehungen zurückgetreten. Jetzt muss das ganze Gremium möglicherweise neu strukturiert werden.

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