Arztgeheimnis aufweichen?

Paris · Ein Jahr nach dem Germanwings-Absturz hat die französische Behörde BEA ihren Abschlussbericht vorgestellt. Die Experten fordern mehr Kontrollen für Piloten und eine Aufweichung der ärztlichen Schweigepflicht.

"Uns geht es hier nicht um Schuld", stellte Rémi Jouty zum Schluss noch einmal klar. Der Leiter der französischen Luftfahrtuntersuchungsbehörde BEA legte gestern seinen 118 Seiten dicken Abschlussbericht zum Absturz der Germanwings-Maschine vor knapp einem Jahr vor. Seine Fachleute konzentrierten sich auf die Frage, wie solche Katastrophen in Zukunft verhindert werden können. Peinlich genau zeichnete deshalb BEA-Chefermittler Arnaud Desjardins die jahrelange Krankengeschichte von Kopilot Andreas Lubitz nach, der am 24. März 2015 den Airbus A320 mit 150 Menschen an Bord auf dem Weg von Barcelona nach Düsseldorf in den französischen Alpen zerschellen ließ. Der 27-Jährige war in den Wochen vor seiner Tat schwer depressiv gewesen und hatte mehrere Ärzte aufgesucht. "Keiner dieser Gesundheitsdienstleister informierte eine Luftfahrtbehörde oder irgendeine andere Behörde über die psychische Verfassung des Kopiloten", kritisierte der Bericht. Als Konsequenz empfehlen die Fachleute deshalb klarere Regeln, wann das Arztgeheimnis gebrochen werden kann, um die "öffentliche Sicherheit" zu garantieren. In Israel, Kanada und Norwegen sei das bereits üblich.

Außerdem müssten Piloten stärker auf psychische Probleme kontrolliert werden, fordert die BEA. Lubitz litt seit 2008 an einer Depression, die ein Jahr später zu einem Vermerk in seinem Flugtauglichkeitszeugnis führte. Trotzdem musste der Kopilot sich wie seine Kollegen auch nur einmal jährlich einem Tauglichkeitstest unterziehen. Sein letztes Tauglichkeitszeugnis bekam Lubitz am 28. Juli 2014 für ein weiteres Jahr ausgestellt. Doch zum Jahresende 2014 verschlechterte sich sein Zustand: der Kopilot klagte über Sehstörungen, die allerdings psychosomatisch bedingt waren.

Dass der 27-Jährige unter massiven psychischen Problemen litt, stellte ein Arzt im Februar 2015 fest. Derselbe Arzt diagnostizierte nur zwei Wochen vor dem Crash eine mögliche Psychose und überwies seinen Patienten in die Psychiatrie, ohne dass Lubitz dem folgte. Trotz einer Krankschreibung setzte sich der Kopilot am 24. März ins Flugzeug, um seine Selbstmordabsichten umzusetzen. Lubitz war alleine im Cockpit. Die Zweierregel, die viele Fluggesellschaften seither anwenden, gehe in die richtige Richtung, sagte Jouty.

Meinung:

Empfehlungen machen Sinn

Von SZ-KorrespondentinChristine Longin

Andreas Lubitz ist kein Einzelfall. Allein drei Flugzeugabstürze, die durch Selbstmörder verursacht wurden, zählte die Luftfahrtuntersuchungsbehörde BEA in den vergangenen gut drei Jahrzehnten auf. Auch deshalb sollte über eine Lockerung der ärztlichen Schweigepflicht unter strengen Kriterien und in bestimmten Fällen wie dem von Lubitz nachgedacht werden. Klarere Regeln fordern die Experten für Deutschland. Denn wer sieben Ärzte innerhalb eines Monats konsultiert, hat ein Problem. Hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht. Allerdings können die Empfehlungen der Experten verhindern, dass ein Selbstmörder überhaupt ins Cockpit kommt.