Bandenkriege Alle 15 Minuten wird ein Mensch getötet

Mexiko-Stadt · Die Sicherheitslage in Mexiko hat sich dramatisch verschlechtert. Kämpfe zwischen verfeindeten Banden verwandeln das Land in ein Schlachtfeld. Die Polizei ist machtlos.

Silvestre de la Toba Camacho hat keine Chance. Ein bewaffnetes Kommando eröffnet das Feuer auf seinen Geländewagen, als der Leiter der örtlichen Menschenrechtskommission gerade mit seiner Familie in La Paz im Bundesstaat Baja California Sur unterwegs ist. Der Ombudsmann und sein Sohn sterben im Kugelhagel, seine Frau und seine Tochter werden verletzt ins Krankenhaus gebracht.

Camacho ist eines der jüngsten Opfer einer beispiellosen Gewaltwelle, die Mexiko überrollt. Jede Viertelstunde wird in dem lateinamerikanischen Land ein Mensch getötet. Allein im Oktober registrierte das Innenministerium 2764 Tötungsdelikte, so viel wie noch nie in einem Monat seit Beginn der systematischen Erhebung vor 20 Jahren. Zum Vergleich: In Deutschland wurden im gesamten vergangenen Jahr 876 Menschen Opfer von Mord und Totschlag.

Schon jetzt ist 2017 das blutigste Jahr in der jüngeren Geschichte – und in der Statistik fehlen noch zwei Monate. Seit Jahresbeginn wurden in Mexiko 23 968 Menschen Opfer von Mord und Totschlag. „Und das sind nur die Fälle, von denen wir wissen“, sagt Francisco Rivas, Leiter der auf Sicherheitsthemen spezialisierten Organisation Observatorio Nacional Ciudadano. „Dazu kommen die vielen Menschen, die einfach verschwinden und von denen man nie mehr etwas hört.“ Mehr als 30 000 Menschen gelten in Mexiko als vermisst. Das bislang gewalttätigste Jahr war 2011 mit 22 852 Tötungsdelikten. Bis 2015 gingen die Zahlen von Mord und Totschlag zunächst etwas zurück, dann stiegen sie wieder kräftig an.

Zahlreiche Festnahmen und Tötungen mächtiger Kartellbosse hatten zuletzt Machtkämpfe innerhalb der Verbrechersyndikate entfacht. Außerdem konkurrieren zunehmend auch kleinere Banden um Geschäftsanteile und Einflusszonen. Neben dem Drogenhandel sind die Kartelle auch in Schutzgelderpressung, Menschenhandel und Benzindiebstahl verwickelt.

Experten raten schon seit langem, sich nicht nur auf die Festnahme von Kartellgrößen zu konzentrieren, sondern die finanziellen und logistischen Netzwerke der Verbrechersyndikate ins Visier zu nehmen. Denn mit jeder Verhaftung entsteht in den Kartellen ein Machtvakuum, das meist erst nach blutigen Machtkämpfen wieder gefüllt wird. „Wenn man einer kriminellen Bande den Kopf abschlägt, ändern sich die Loyalitäten und es kommt zu Spaltungen“, sagt Santiago Roel von der Nichtregierungsorganisation Semáforo Delictivo. „Das verursacht den Großteil der Gewalt in Mexiko.“

Bislang haben die Sicherheitsbehörden keine rechte Antwort auf die Gewaltwelle gefunden. „Der Anstieg der Mordraten in Mexiko spiegelt unüberlegte Sicherheitsstrategien, die Zersplitterung der kriminellen Organisationen und die Diversifizierung der illegalen Aktivitäten wider“, sagt Froylán Enciso vom Forschungsinstitut International Crisis Group.

Befeuert wird die Gewalt von den illegalen Milliardengewinnen des organisierten Verbrechens, der weit verbreiteten Straflosigkeit und dem Waffenschmuggel vor allem aus den USA. Einer Studie zufolge gibt es in Mexiko über 24 Millionen illegale Feuerwaffen.

Die weit verbreitete Korruption unter den Sicherheitsbehörden bereitet dem organisierten Verbrechen einen fruchtbaren Boden. „Was können wir tun? Die Korruption bekämpfen, die die Drogenhändler und die Politiker vereint und die Institutionen schwächt, die das Verbrechen bekämpfen sollten“, schreibt die Kolumnistin Gabriela de la Paz in der Zeitung „Reforma“.

Für Präsident Enrique Peña Nieto hatte der Kampf gegen das organisierte Verbrechen und die Verbesserung der Sicherheitslage nie oberste Priorität. Er wollte als großer Reformator in die Geschichte eingehen, der die verkrusteten Strukturen des Landes aufbrach und die Wirtschaft ankurbelte. Jetzt hat Peña Nieto das blutigste Jahr der jüngeren Geschichte zu verantworten.

In einem halben Jahr wird in Mexiko gewählt, die ersten Präsidentschaftskandidaten bringen sich schon in Stellung. Peña Nietos Amtszeit endet definitiv im Dezember 2018. „Anscheinend haben die Behörden den Kurs verloren“, sagt Sicherheitsexperte Rivas. „Es sieht fast so aus, als würden sie schon ihre Sachen zusammenpacken und gehen. Niemand übernimmt die Verantwortung.“

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