Wo ein Flüchtling ist, ist auch ein Weg

Berlin · Zu allem entschlossene Flüchtlinge, die nicht mehr in ihre Heimat zurück können und deshalb nichts zu verlieren haben, lassen sich kaum aufhalten. Im Grunde hätten die Regierungen in Europa das wissen können, wenn sie sich nur ein wenig an das Jahr 1989 erinnert hätten.

Ganz besonders die ungarische Regierung müsste es wissen. Dann hätte sie sich ihre neuen Grenzzäune gespart.

Selbst wenn die gesamte Balkanroute dicht wäre, es machte keinen Unterschied. Dann würden es die Verzweifelten eben über die Adria versuchen. Wo ein Flüchtling, da ein Weg - und ein Schlepper-Angebot. Wenn die Massen erst einmal in Bewegung geraten sind, lassen sie sich nicht stoppen, außer mit brutalster Gewalt. Das ist die Lehre von 1989. Und dabei gab es damals noch nicht mal Smartphones, die heute die ganze Entwicklung ungeheuer beschleunigen.

Die sich selbst verstärkende Dynamik hatte im Mai 1989 klein angefangen, als Ungarn seinen Grenzzaun nach Österreich abbaute. Mitte August liefen dort - vom Fernsehen beobachtet - erstmals hunderte DDR-Bürger unbehelligt über die grüne Grenze. Rund 200 000 DDR-Urlauber befanden sich damals in dem Land, und viele entschieden sich nun, es auch zu versuchen. Andere machten sich in Ostdeutschland auf den Weg nach Süden, der eigentlich nach Westen führen sollte. Oder stürmten die Botschaften. Offiziell versuchte Bu dapest noch, die Kontrolle zu behalten, doch es wurden immer mehr. Als Ungarn dann am 10. Sep tember erklärte, nun dürfe jeder nach Österreich ausreisen, war das Tor weit offen und ging nie wieder zu. 15 000 kamen allein in den ersten drei Tagen.

Ein weiteres Beispiel ist die von der DDR-Führung als "einmalig" gedachte Ausreisegenehmigung für die rund 3000 Flüchtlinge in der Prager Botschaft, die der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher am 30. September 1989 verkündete: "Ich bin gekommen, um Ihnen mitzuteilen . . ." Die Aktion brachte keine Entlastung. Dass die DDR darauf bestand, die Züge aus hoheitlichen Gründen über ihr Gebiet nach Westen zu leiten, erwies sich als regelrechter Rohrkrepierer. Denn so sah auch noch der letzte, dass sich hier ein Weg auftat. Ein paar Tage später war die Botschaft wieder voll, und weil die Zustände in Prag unhaltbar wurden, musste die DDR der tschechischen Regierung schließlich ab dem 3. November gestatten, die Flüchtenden über die tschechische Staatsstraße 13 direkt nach Bayern ausreisen zu lassen. Jeden Tag kamen mehrere tausend Menschen dort an. Das war - Tage vor dem 9. November - praktisch schon die Reisefreiheit, wenn auch eine umständliche. Denn jeder hätte nach einem kurzen Trip in den Westen wieder bei seinem DDR-Staat anklopfen können: Hallo, ich bin zurück. Die DDR hätte ihn kaum abgewiesen. Es gab solche Fälle.

Die Flüchtlingszahlen waren ähnlich hoch wie heute, weil noch Übersiedler aus Polen und der Sowjetunion dazu kamen. Allein West-Berlin musste bis September 1989 rund 30 000 Menschen unterbringen; viele Turnhallen waren belegt. In der damaligen Bundesrepublik waren es bis zum Herbst schon rund 300 000 Menschen. Den Satz "Wir schaffen das" musste damals übrigens niemand ausrufen. Es war eine Selbstverständlichkeit.

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