Wie Kohl-Freund Orban Europas Werte missachtet
Berlin · Während Moskau seine Finger nach der Ukraine ausstreckt und offen von "Neurussland" redet, die Welt zugleich gebannt nach Nahost blickt, wo barbarische Islamisten einen Gottesstaat errichten wollen, probt mitten in Europa ein Ministerpräsident die Abschaffung europäischer Werte.
Die Experimente in Ungarn finden jenseits der großen Scheinwerfer statt, doch es lohnt sich unbedingt, das Treiben von Viktor Orban genauer unter die Lupe zu nehmen.
Vor genau 25 Jahren war es das kleine Land im Osten Europas, das es wagte, am "Eisernen Vorhang" die Fräse anzusetzen. Ermuntert von Glasnost und Perestroika des sowjetischen Reformers Michail Gorbatschow, schufen die Ungarn mit der Grenzöffnung nach Österreich die Voraussetzungen für den Fall der Mauer. Noch heute schaut der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl voller Dankbarkeit nach Budapest. Aber dort regieren nicht mehr die liberalen Vorkämpfer Miklos Nemeth und Gyula Horn, sondern rechte Nationalisten unter Führung des Premierministers Viktor Orban. Der wiederum ist Kohl dankbar - für dessen persönliche und politische Unterstützung.
Die Hintergründe der Vorgänge in Ungarn sind erstaunlich. Regierungschef Orban, der in weiten Teilen Europas auf Kritik, Empörung und Ablehnung stößt, weil er demokratische Grundsätze mit Füßen tritt und mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin sympathisiert, wird vom deutschen "Einheitskanzler" Kohl als guter Freund hofiert und empfangen. Mehrfach war Orban privat zu Gast bei den Kohls in Oggersheim, und erst in diesem Frühjahr hatte Kohl dem umstrittenen Ungarn einen herzlichen Brief geschrieben ("Lieber Freund"), in dem er ihm für die Wahl im April seine "besten Wünsche" übermittelte. Und nachdem Orban diese Wahl klar gewonnen hat und seine Partei Fidesz gemeinsam mit der rechtsradikalen Jobbik über eine satte Zweidrittelmehrheit im Parlament verfügt, glaubt er sich legitimiert, das Zehn-Millionen-Einwohner-Land nach eigenem Gusto umbauen zu können. Vorstellungen, die schon deshalb fragwürdig sind, weil sie sich nicht an der europäischen Charta, sondern an autoritären Systemen wie in Russland, China und der Türkei orientieren.
Vor allem Putin und der neue türkische Staatspräsident Erdogan haben es Orban angetan. Und ganz offenbar eifert er seinen Vorbildern nach, die er "wahre Stars" nennt. Ganz ungeniert hat er kürzlich in einer Rede angekündigt, aus Ungarn einen "illiberalen Staat" zu machen. Und ganz offen geht er gegen "ausländische Agenten" vor, die er in den Nichtregierungs-Organisationen ausgemacht haben will: Vorige Woche durchkämmten Dutzende Polizisten die Büros von Bürgerrechtlern wie der Gruppe "Ökotars". Auch gegen Obdachlose, Sinti und Roma sowie gegen Journalisten kennt Orban kein Pardon. Die Verschärfung des Medienrechts, eine zugeschnittene Verfassung sowie die Installation von Gefolgsleuten in der Justiz haben eine Atmosphäre geschaffen, die auch den Vereinten Nationen Sorge macht. Mittlerweile sieht das UN-Menschenrechtskommissariat dort "den Rechtsstaat an sich" in Gefahr.
Orban selbst stört die internationale Kritik an seinem Verhalten nicht. Am Donnerstag weilte er in Brüssel, wo er den Vertrag über die EU-Mittel für sein Land bis 2020 unterzeichnete. Ungarn kassiert 24,5 Milliarden Euro.