Wie aus Wachstum Fortschritt werden kann

Berlin. Wenn zwei Autos zusammenstoßen oder eine Windhose Dächer abdeckt, dann hat das eines gemeinsam: Es steigert das Wirtschaftswachstum. Denn was kaputt geht, muss ersetzt werden. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) misst den Wert aller in Deutschland hergestellten Waren und Dienstleistungen, ob sie zu mehr Wohlbefinden führen oder nicht

Berlin. Wenn zwei Autos zusammenstoßen oder eine Windhose Dächer abdeckt, dann hat das eines gemeinsam: Es steigert das Wirtschaftswachstum. Denn was kaputt geht, muss ersetzt werden. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) misst den Wert aller in Deutschland hergestellten Waren und Dienstleistungen, ob sie zu mehr Wohlbefinden führen oder nicht. Dass Wachstum und Wohlstand nicht dasselbe sind, fällt besonders in Ländern wie China auf, wo der Wirtschaftsaufstieg ökologische und soziale Katastrophen hinterlässt. Vom subjektiv empfundenen Lebensglück nicht zu reden. Ein in den USA entwickelter "Happy-Planet-Index" sieht regelmäßig Länder wie Costa Rica oder das bettelarme Vietnam vorne, während Deutschland nur im Mittelfeld rangiert.Wie kann man den Fortschritt eines Landes besser messen? So messen, dass auch soziale Gerechtigkeit, die Qualität des Gesundheits- und Bildungswesens, ökologische Nachhaltigkeit und die Zufriedenheit der Menschen erfasst werden? Heute setzt der Bundestag eine Enquete-Kommission an diese Mammut-Aufgabe. Daniela Kolbe (SPD) soll die Gruppe leiten, die aus 17 Abgeordneten und 17 Experten besteht. Eine "intellektuelle Herausforderung" werde die Arbeit, sagt die 30-Jährige: "Und hoch spannend." Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hat das von SPD und Grünen initiierte Vorhaben unterstützt, so dass auch die Koalitionsfraktionen nun den Antrag mit einbringen. Europa, sagte Merkel im Februar, müsste "über neue Formen des Wohlstandes" reden. Hintergrund war, dass die traditionellen BIP-Raten die Immobilienblasen in den USA oder Spanien nicht abbildeten, ebenso wenig die Blasen auf dem Finanzmarkt. Im Gegenteil, diese Schein-Geschäfte trieben die Wachstumszahlen nach oben. In Frankreich setzte Präsident Nicolas Sarkozy bereits 2008 die nach ihrem Vorsitzenden benannte Stiglitz-Kommission ein.

Kolbe erwartet wegen der zahlreichen Vorarbeiten, dass die Kommission auch für Deutschland einen Fortschrittsindikator finden wird. Allerdings werden die Parteien um die Gewichtung der einzelnen Faktoren rangeln, denn die neue Messzahl ist auch eine Art Zeugnis für jede Regierung: Steigt sie, hätte sie den Menschen wirklich Fortschritt gebracht. Sinkt sie, wäre das Leben trotz höherer Produktionszahlen schlechter geworden. Klar ist, dass die neue Größe das BIP nur ergänzen soll. Denn die Wirtschaft orientiert sich bei ihren Investitionen weiter am Geldwert. Anderes zählt dort wenig.

Allerdings hat die Kommission noch weitere Aufträge. Das wirkt fast wie eine Beschäftigungstherapie für junge Abgeordnete, die das Gros der Mitglieder stellen. So soll untersucht werden, ob eine stabile soziale Entwicklung auch ohne BIP-Wachstum möglich ist, was bisher als unmöglich gilt. Arbeitswelt, Konsum und Lebensstile sollen darauf abgeklopft werden, wie sie nachhaltiger werden können. Stichwort: Bewusster leben und arbeiten.

Die Kommission soll sogar die Frage beantworten, ob und wie sich auch ärmere Leute einen solchen Lebensstil leisten können. Daniela Kolbe räumt ein, dass man bei vielen Themen nur erste Erkenntnisse in den für 2013 geplanten Abschlussbericht wird aufnehmen können. Doch glaubt sie, dass die Kommission wichtige Anstöße geben kann. "Sehr viele Menschen denken darüber nach, ob der ständige Zuwachs an Produktion und Verbrauch tatsächlich ein besseres Leben bedeutet", sagt sie. "Und immer mehr beantworten das mit Nein."

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