Wenn Werte absaufen

Ja, es stimmt, was nach dem neuerlichen Flüchtlings-Drama von Lampedusa beklagt wird: Europas Werte ertrinken im Mittelmeer. Hilfsbereitschaft, Menschenwürde und das Recht auf Leben saufen ab, weil Europa nicht wirklich aktiv handelt, um den seit Jahrzehnten währenden Flüchtlingsstrom zu kanalisieren.

Weil Brüssel und die Hauptstädte der EU eher Dämme aufbauen, als dass sie Barrieren abreißen. Aber: Entspricht die Wahrnehmung des Abschottens auch den Tatsachen? Ist Europa wirklich so herzlos, dass es kaltblütig zuschaut, wie arme Schlucker vom afrikanischen Elend in den mediterranen Tod fliehen?

Wer die Situation analysiert, wird feststellen, dass es zwei Wahrheiten gibt. Die erste heißt: Europa tut durchaus Einiges für Armutsflüchtlinge. Und es behandelt die Menschen besser als Australien, das "Boatpeople" auf einsame Inseln verfrachtet. Oder die USA, wo man sich mit Mauern und Zäunen gegen Mexiko verbarrikadiert. Die zweite Wahrheit: Europa verschließt die Augen vor dem Wohlstandsgefälle und versucht mit allen Mitteln, den Ansturm der Armen aus Afrika zu stoppen. Kein Land will die Hungerleider haben, sie kosten ja nur Geld. Aber tüchtige Ingenieure und Facharbeiter sind hochwillkommen. Das zeigt die Moral, die hinter nahezu jeder Asylpolitik steht: Die Guten ins Töpfchen . . .

Andererseits: Die Moral der edlen Menschen, die jetzt einer "humaneren Flüchtlingspolitik" das Wort reden, hilft auch nicht weiter. Denn eine Lösung des Problems, eine echte Idee, wie dem Dilemma beizukommen wäre, haben auch sie nicht anzubieten. Welcher Politiker (sie entscheiden nun mal) kann Flüchtlinge offen willkommen heißen, wenn in seinem Wahlkreis tausende Menschen arbeitslos sind oder von Hartz IV leben müssen? Und welcher Christ, Humanist oder Sozialist, der sich ein idyllisches Zuhause erarbeitet hat, ist erfreut, wenn in der Nachbarschaft plötzlich fremde Menschen mit exotischer Kultur auftauchen? Nicht Lampedusa ist das Problem, sondern das Lager vor der eigenen Haustür. Genau darum geht es: Wer es ernst meint mit einer humanen Asyl- und Flüchtlingspolitik, muss auch bereit sein, die konkreten Folgen zu akzeptieren.

Gleichwohl: Europa, das sich humanitären Werten verpflichtet fühlt, darf nicht nur die Schultern zucken. Europa muss einsehen, dass seine Abschottungspolitik ebenso gescheitert ist wie die Überwachungsprogramme "Lifeline" und "Smart Border", oder auch die fragwürdige Drittstaaten-Regelung. In Brüssel sitzen 27 Kommissare ´rum und produzieren ständig irgendwelche Richtlinien. Es wäre besser, sie würden sich mal grundsätzlich Gedanken über ein europäisches Flüchtlingskonzept machen, das diesen Namen auch verdient.

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