Wenn Multikulti für Mädchen zum Horror wird

London · Die Beschneidungs-Saison hat begonnen. Zum Start der Sommerferien fliegen zahlreiche Eltern ihre Töchter von Großbritannien nach Afrika oder in den Nahen und Mittleren Osten, damit den Mädchen in alter Tradition die äußeren Geschlechtsorgane ganz oder teilweise entfernt werden.

Die Zahlen sind alarmierend: Nach Schätzungen leiden in England und Wales bereits bis zu 137 000 Frauen und Mädchen unter den Folgen der weiblichen Genitalverstümmelung. Doch allmählich setzt im Königreich ein Umdenken ein, die Regierung will nun schärfer gegen dieses archaische Ritual vorgehen.

Premierminister David Cameron persönlich eröffnete gestern in London den ersten "Mädchen-Gipfel", den das Kinderhilfswerk Unicef mit der britischen Regierung organisiert hatte. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind weltweit rund 130 Millionen Mädchen und Frauen von Genitalverstümmelung betroffen, in 29 afrikanischen und arabischen Ländern ist die blutige Praxis bis heute Tradition. Dies sei ein "ständiger Tadel an unsere Welt", sagte Cameron. Alle Mädchen hätten das Recht auf ein Leben frei von Zwang und Gewalt. Die britische Regierung will jetzt umgerechnet gut 1,7 Millionen Euro für ein Vorsorgeprogramm bereitstellen, um weibliche Beschneidung "innerhalb einer Generation auszumerzen". Dafür sollen Ärzte, Lehrer und Sozialarbeiter verpflichtet werden, solche Verstümmelungen zu melden, falls sie davon erfahren. Zudem plant die Regierung ein Gesetz, wonach Eltern mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen müssen, wenn sie ihre Kinder nicht ausreichend schützen.

Bereits seit 1985 steht die Genitalverstümmelung britischer Staatsbürgerinnen unter Strafe - unabhängig davon, in welchem Land der Eingriff stattfindet. Dennoch kam erst im März dieses Jahres ein Fall vor Gericht. Ein Arzt in England verlor seine Zulassung, weil er zur Beschneidung von Mädchen bereit war. Für viele war das nur einer der Schritte zu einem neuen Problembewusstsein. Schon lange werfen Kritiker der Regierung Versagen im Kampf gegen die grausame Praxis vor. Über Jahrzehnte hatten Entscheidungsträger und Verantwortliche aus vermeintlicher politischer Korrektheit geschwiegen, vieles wurde als kultureller Unterschied akzeptiert. Auch der Innenausschuss des Parlaments kritisierte erst kürzlich das mangelnde Engagement von Justiz, Polizei , Gesundheits- und Bildungsbehörden. Deren Untätigkeit sei der Grund für die "vermeidbare Verstümmelung von tausenden Mädchen" - der Ausschuss nannte das einen "nationalen Skandal".

Ähnliches gilt für das zweite Schwerpunkt-Thema des "Mädchen-Gipfels", den Kampf gegen Kinderehen. Nach Jahren multikultureller Befindlichkeiten in der britischen Gesellschaft steht Zwangsverheiratung im Königreich seit Juni unter Strafe. Hintergrund ist die hohe Zahl von Zwangsverheiratungen britischer Staatsbürger, vornehmlich Jugendlicher. Deren Eltern stammen ursprünglich meist aus Pakistan, Indien oder Bangladesch. Kinderehen und Beschneidungen fügten den Mädchen tiefes und dauerhaftes Leid zu, erklärte Unicef-Geschäftsführer Anthony Lake beim Londoner Gipfel. Mädchen seien kein Eigentum. "Sie haben das Recht, über ihr Schicksal zu bestimmen."

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