Wenn Aufklärung mit Anklage verwechselt wird

Hamburg. Über Thilo Sarrazin ist fast alles gesagt, über den Umgang mit ihm und seinen kruden Thesen nicht. Auch haben die Medien, die sich mit dem Instinkt eines Jagdhundes auf das brisante Thema stürzten, die Kernfrage bislang nicht beantwortet, warum die Resonanz auf den Provokateur eigentlich so groß ist

Hamburg. Über Thilo Sarrazin ist fast alles gesagt, über den Umgang mit ihm und seinen kruden Thesen nicht. Auch haben die Medien, die sich mit dem Instinkt eines Jagdhundes auf das brisante Thema stürzten, die Kernfrage bislang nicht beantwortet, warum die Resonanz auf den Provokateur eigentlich so groß ist. Wie am späten Montagabend bei "Beckmann" in der ARD, als der famose Moderator Aufklärung mit Anklage verwechselte - und die Zuschauer ziemlich ratlos ins Bett schickte. "Deutschland schafft sich ab", hat Bundesbanker Sarrazin seinen fragwürdigen Exkurs in die Welt der Soziologie, der Bevölkerungsentwicklung und der Genetik genannt. Vermutlich hat er selbst nicht ahnen können, dass die Pawlow'schen Reflexe aller elitären Gutmenschen in Deutschland so gut funktionieren, dass die empörten Stellungnahmen über den "Quartalsirren" (Grünen-Chefin Claudia Roth) ganze Zeitungsseiten, Radio- und TV-Sendungen füllen würden. Leider wurde auch bei Beckmann versäumt zu hinterfragen, warum Sarrazin offenbar einen Nerv getroffen hat. An dieser Stelle ist es schon aus Platzgründen nicht möglich, Sarrazins gesammelte Thesen seriös zu bewerten. Es scheint, dass seine strittigen Aussagen, wonach Intelligenz "zum großen Teil erblich" sei, oder die Gebärfreude muslimischer Frauen in Kombination mit der geringen Geburtenrate der deutschen zu einem "stillen Dahinscheiden des deutschen Volkes" führe, nicht mal eine Halbwahrheit darstellen. Die Wissenschaftler sind sich nicht einig, auch nicht zu der umstrittenen Behauptung (die nicht im Buch enthalten ist), dass "alle Juden ein bestimmtes Gen haben". Vor allem diese Aussage, abgeleitet von einer Studie der New York University, hat Sarrazin den Vorwurf des Rassismus eingetragen. Mittlerweile muss er sich jede Menge Schimpfwörter anhören, aber auch er selbst teilt ungeniert aus. Insbesondere gegenüber Hartz-IV-Empfängern, sozial Schwachen und Muslimen, bei denen er abwertend von "Araberjungen" und "Kopftuchmädchen" spricht, die im Gegensatz zu Migranten aus Osteuropa oder Asien "noch in der dritten Generation nicht integriert" seien. Diese letzte Aussage stimmt zweifellos, und dieses Problem wird in der Bevölkerung auch so empfunden. Was die Bürger in Deutschland aber tatsächlich fühlen, spielt in der öffentlichen Debatte offenbar keine Rolle. Jedenfalls nicht bei Beckmann, der ein Tribunal veranstalten wollte und nur (vier) Sarrazin-Kritiker eingeladen hatte, die bei den Zahlenbeispielen des Autors genervt die Augen verdrehten, keines der migrationsbedingten Probleme verbal würdigten und sich in Appellen für Integration und Vernunft erschöpften. Kein Wort zum (gen-bedingten?) Phänomen der Xenophobie, der "natürlichen" Fremdenangst. Kein Wort zu den Irritationen über den Islam und die andere Kultur, die nicht überall als Bereicherung empfunden wird. Und kein Wort zu den durchaus vorhandenen Bildungsanstrengungen in Deutschland, die oftmals jedoch am mangelnden Kooperationswillen der (moslemischen) Eltern scheitern. Die gesamte Debatte leidet an der Weigerung der politischen Klasse, die migrationsbedingten Probleme als solche zu benennen und daraus die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Das Gros der Deutschen ist nicht ausländerfeindlich, das belegt ihr Umgang mit Italienern und Holländern, Griechen, Polen oder Chinesen. Sie fühlen sich aber von Politikern im Stich gelassen, die Parallelgesellschaften und Ghetto-Bildung zulassen und jugendlichen Migranten keine Perspektive bieten. In dieser Logik kam am Ende der "Beckmann"-Sendung auch die große Ernüchterung: 70 Prozent der Zuschauer-Meinungen waren pro Sarrazin - obwohl der beklemmend hilflos wirkte. Auch dazu kein Wort. Der Moderator machte lieber Schluss.

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