Warum wir immer einen Sündenbock brauchen

Duisburg. Er erhält Morddrohungen, er wird beschimpft und mit Müll beworfen: Nach der Loveparade-Katastrophe mit 21 Toten steht ein Mann im Zentrum der Kritik: Adolf Sauerland, der Oberbürgermeister von Duisburg

Duisburg. Er erhält Morddrohungen, er wird beschimpft und mit Müll beworfen: Nach der Loveparade-Katastrophe mit 21 Toten steht ein Mann im Zentrum der Kritik: Adolf Sauerland, der Oberbürgermeister von Duisburg. Obwohl die Schuldfrage noch keineswegs abschließend geklärt ist, obwohl mehrere Akteure an der Planung und Durchführung der Parade beteiligt waren, richten sich alle Emotionen, all die Wut der Menschen derzeit fast ausschließlich gegen Sauerland. Er scheint, so hat es der Bundestagspolitiker Günter Krings bemerkt, der "Sündenbock" des Unglücks zu sein. Doch was ist das überhaupt? Der Sündenbock taucht seit Menschengedenken immer dann schnell auf, wenn nach einem Unglück oder einer Krise ein Verantwortlicher gesucht wird. Der Ursprung des Begriffs liegt in einem religiösen Ritual des Judentums. Beschrieben ist es im dritten Buch Mose (Leviticus 16, 8-10 und 20-22). Am höchsten Feiertag Jom Kippur, dem Versöhnungstag, bekommt ein Ziegenbock vom Hohepriester durch Handauflegen symbolisch die Sünden des Volkes Israels auferlegt. Dann wird das Tier in die Wüste gejagt - um alle Schuld mit sich zu nehmen. "Der Sündenbock ist also eigentlich unschuldig. Die Gemeinschaft bürdet ihm jedoch die Schuld auf, um sich moralisch zu reinigen", erklärt der Theologe Hans-Peter Großhans von der Universität Münster. Dieser Mechanismus sei auch bei der Schulddebatte um die Loveparade-Katastrophe zu beobachten. "Da wird ein Schuldiger gesucht, obwohl die Schuld noch nicht geklärt ist. Die Gesellschaft braucht aber ein Opfer, um selbst psychologisch entlastet zu werden." Dass Sauerland zum Sündenbock abgestempelt wurde, erklärt der Soziologe Frithjof Hager von der Freien Universität Berlin so: "Nach einem Unglück muss irgendwer verantwortlich sein. Das entspricht unserem gesellschaftlichen Selbstverständnis." Das Problem in Duisburg: Dort war ein Großteil der Entscheidungen auf sehr viele Menschen verteilt, die Verantwortlichkeit lässt sich daher nicht nur einem Einzigen zurechnen. "Das passiert aber trotzdem. Weil wir nicht fähig sind, in Beziehungen zu denken, reduzieren wir die Verantwortung auf eine Person. Dadurch können wir das Problem lösen, und müssen uns nicht jeden Tag mit der Schuldfrage quälen." Nach dem französischen Kulturanthropologen René Girard brauchen wir den Sündenbock sogar, um friedvoll zusammenzuleben. Jede Normverletzung, so seine Theorie, zieht eine weitere nach sich. Dies führt demnach zu einer latenten Aggressivität, einer sich langsam steigender Gewaltspirale, die nur gestoppt werden kann, wenn die menschliche Gemeinschaft sich auf einen Sündenbock einigt - um dann alle Aggressivität an ihm abzulassen. "Wenn in Duisburg niemand Verantwortung übernimmt, kann das auch zu Aggressivität führen", sagt Großhans. Bei den Verletzten, den Hinterbliebenen und auch beim Rest der Bevölkerung. "Beenden kann diese Spirale nur einer: der Sündenbock." Doch von Sauerland war in den Tagen nach dem Unglück wenig zu hören, dafür sprachen andere über ihn. Und auch am Wochenende gingen die Mutmaßungen weiter. Laut "Spiegel" war der Oberbürgermeister über Planungsprobleme informiert. Ein Brandbrief der Duisburger Bauaufsicht an den Veranstalter, in dem unter anderem ein fehlendes Brandschutzkonzept angeprangert wurde, soll in Kopie auch an Sauerland gegangen sein.

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