Warum die Schotten weiter von Unabhängigkeit träumen

London · Die Mitgliederzahlen schossen nach oben wie mancher Stromzähler an eisigen Wintertagen: Während die Scottish National Party (SNP) am Tag des Referendums über eine Unabhängigkeit noch rund 25 000 Mitglieder zählte, begann der Höhenflug am Tag danach.

Inzwischen, gut zwei Wochen nach der Niederlage der Abspaltungsbefürworter, unterstützen rund 75 000 Menschen offiziell die SNP. Ein Ende des Zustroms ist nicht in Sicht, ganze Stapel von Anträgen warten darauf, von den überraschten Stellen bearbeitet zu werden. Was sagt das über die derzeitige Situation Schottlands aus?

Die Debatten vor dem Referendum haben den nördlichen Landesteil politisiert. 85 Prozent aller Schotten gingen zur Wahl. Viele junge Menschen, aber auch zahlreiche Nicht-Wähler, interessierten sich erstmals für Politik, sie engagierten sich, mischten sich ein und möchten nun dabei bleiben. Ihre Hoffnungen auf einen echten Wandel könnten als naiv bezeichnet werden, authentisch sind sie auf jeden Fall. Das zeigt nicht nur der Ansturm auf die SNP, auch die schottischen Grünen haben ihre Mitgliederzahl verdreifacht. Politik hat selten derart fasziniert.

Die vergangenen Monate offenbarten zudem Schottlands eigene politische Kultur. Sie ist europafreundlich, sozialdemokratisch und zeugt von großer Skepsis gegenüber dem Londoner Establishment. Auch wenn die Mehrheit für "Nein" und damit für die Union gestimmt hat - immerhin 1,8 Millionen Menschen wünschten sich einen autonomen Staat. Diese Gruppe wird nicht einfach zurück in die zweite Reihe treten und sich mit Versprechungen aus London zufrieden geben. Sie werden den konservativen Premier David Cameron , den liberaldemokratischen Vize-Premier Nick Clegg und auch Labour-Chef Ed Miliband beim Wort nehmen.

Das könnte heikel für London werden. Schon jetzt wird darüber gestritten, wie, wann und zu welchen Bedingungen noch mehr Kompetenzen an Edinburgh übergehen sollen. Dass die Verhandlungen darüber noch im November beginnen, ist gut möglich. Camerons Ankündigung, wonach bereits im Januar ein Gesetzentwurf zu den neuen Regelungen auf dem Tisch liegen soll, gehört dagegen in die Kategorie "utopisch". Denn nicht nur die drei Parteien im Londoner Parlament müssen sich einigen, auch die SNP hat ein Mitspracherecht. Zudem dürften vor der Parlamentswahl im Mai 2015 kaum tiefgreifende Änderungen beschlossen werden, die Wähler abschrecken könnten. Auch Abgeordnete in anderen Landesteilen, vor allem in England, fordern größere Selbstbestimmung.

Sollte sich aber der den Schotten zugesagte Zeitplan verzögern, könnte das unter den erschöpften Befürwortern der Unabhängigkeits erneut zur Rebellion führen. Ohnehin ist Camerons Aussage übertrieben, dass der Streit über eine Abspaltung nun "für eine Generation beigelegt" sei. Solange die Schotten mehrheitlich SNP wählen, ist auch das Thema Unabhängigkeit nicht vom Tisch. Als das Ergebnis feststand, räumte Vize-Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon die Niederlage der Unabhängigkeitsbewegung zwar ein. Sie sagte aber auch, Schottland habe sich "für immer verändert". Ein Gedanke ist nun jedenfalls fest in den Köpfen der Schotten verankert: Die Eigenständigkeit ihres Landes ist seit dem 18. September kein Hirngespinst mehr, sondern eine ernsthafte Option für die Zukunft.

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