Nach der WM Warum Deutschland mehr Gelassenheit braucht

DÜSSELDORF Nichts funktioniert mehr! Die Regierung: ein zerstrittener Haufen. Die Autoindustrie: der Ruf ruiniert durch den Abgasskandal.

Und jetzt auch noch die Nationalmannschaft: kläglich gescheitert in der WM-Vorrunde, zum ersten Mal überhaupt. Drei scheinbare deutsche Selbstverständlichkeiten – die vergleichsweise geräuschlose Effizienz seiner Führung, die exzellente Reputation seiner Industrie, die Erfolge seiner Fußballspieler – sind im Sommer 2018 infrage gestellt.

Nichts funktioniert mehr? Na ja. Die Züge fahren noch, VW macht Rekordgewinne, die Staatsschuldenquote sinkt, der Rechtsstaat funktioniert (auch wenn die Populisten noch so oft das Gegenteil behaupten). Es mag zudem geschmacklos klingen, den Flüchtlingsstreit in einem Atemzug zu nennen mit einer WM. Aber sportliche Erfolge beeinflussen die nationale Identität, wie die Politik, wie die Wirtschaft.

Eine gewisse kollektive Erschütterung in diesen Tagen darf man also getrost unterstellen. Wie damit umgehen? Man könnte die Philosophen fragen. Dann gelangt man unweigerlich zu den Stoikern. Im Erschütterungsabfederungsbusiness ist die Schule der Stoa seit gut 2000 Jahren führend. Manches von dem lässt sich durchaus nutzen. Der Ansatz ist das, was wir umgangssprachlich unter stoischer Haltung verstehen. Die Originalstoiker haben dafür ein herrliches Wort: Ataraxia, Unerschütterlichkeit gegenüber Widrigkeiten. Lucius Annaeus Seneca, der wohl bedeutendste römische Stoiker, hat es so gesagt: „Wir sollten uns über nichts von dem wundern, wozu wir geboren sind. Diese Bedingung des Lebens können wir nicht ändern. Das aber können wir: Seelenstärke annehmen, mit der wir tapfer alle Zufälligkeiten ertragen.“ Wenn man den hohen Ton etwas zurücknimmt, ist recht klar, was gemeint ist.

Noch nicht klar ist dagegen, was uns das 2018 sagen sollte. Vielleicht: Die stoische Unerschütterlichkeit ist keine billige Wurstigkeit, nicht das „I really don’t care“ auf der Jacke von Melania Trump, und auch keine buddhistische Lebensverachtung. Es ist eine aus täglicher Betätigung gewonnene Einsicht. Die Stoiker unterteilen die Dinge in Gutes, Schlechtes und Indifferentes. Gutes ist zu erstreben, Schlechtes zu vermeiden, der Rest (Geld etwa) kann helfen auf dem Weg zu Weisheit und Glück, aber auch schaden. Und über allem steht eben das Schicksal, das wir nicht ändern können.

Die Erkenntnis aber, was gut und was schlecht ist, wichtig oder unwichtig, erwächst aus vernunftgeleiteter Betrachtung. Emotionale Reflexe wie Wut sind schädlich, weil sie den Geist versklaven. Seneca predigte stets, der Mensch solle der Natur gemäß leben, die planvoll und gut eingerichtet sei. Das klingt heute naiv, wenn auch die meisten der großen Unbilden, mit denen wir zu kämpfen haben – Krieg, Flucht, Krisen, Klimawandel –, nicht natürlich sind, kein blindes Geschick, sondern menschengemacht.

Die modernen Stoiker haben „die Natur“ deshalb als „die Fakten“ neu gedeutet. In Zeiten von Fake News und Wissenschaftsverachtung ist das ein Appell an entschiedene Rationalität im Denken und Handeln. Und zwar im pragmatischen Handeln: „Nachdem wir hinter uns gelassen haben, was nicht oder nur schwierig zustande zu bringen ist, sollten wir uns solchen Dingen zuwenden, die näherbei sind und in Reichweite unserer Hoffnung.“ Dass es dabei nicht ohne Kompromisse ab­geht zwischen Ideal und Wirklichkeit, das weiß auch Seneca.

All das zusammengenommen könnte zu Rückschlüssen auf die aktuelle Lage führen. Man könnte zu der Ansicht kommen, das WM-Aus schaffe vielleicht wieder Raum für anderes in der kollektiven Wahrnehmung. Man könnte zu der Ansicht kommen, und so scheint es zu passieren, dass der Streit um die Zurückweisung an den Grenzen es nicht wert ist, eine Regierung zu sprengen.

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