Großveranstaltungen Warum 100 die bessere Corona-Obergrenze wäre

Düsseldorf · Als hätten wir in diesen Tagen nicht schon Sorgen genug, die uns das Coronavirus beschert, reden Fachleute jetzt oft von exponentiellem Wachstum bei den Infektionsraten. Bei diesem Thema haben im Mathe-Unterricht viele gefehlt.

An die Berechnungsformel glaubt auch sowieso kein Mensch, der sie nicht einmal als geometrische Kurve steil hat ansteigen sehen.

Der König von Indien hat sie ehedem nicht gekannt. Sonst hätte er dem Erfinder des Schachspiels niemals zugesagt, dass er ihm als Lohn für das neue Spiel ein Reiskorn auf das erste Schachfeld und die jeweils doppelte Menge an Reiskörnern auf die 63 weiteren Felder legen werde. Zwar beginnt die Progression harmlos: 1, 2, 4, 8, 16, 32 und so weiter. Doch am Ende liegen auf dem 64. Feld genau 9 223 372 036 864 775 808 Körner. Mehr als neun Trillionen.

Was das mit dem Coronavirus zu tun hat? Wer die Fallzahlen in Deutschland und der Welt in eine Kurve umformt, der wird den exponentiellen Charakter feststellen. Infektionsmedizinisch führt kein Weg daran vorbei, dass die Kurve dringend flacher werden muss; sie ist ja kein Naturgesetz, das zwangsläufig eintritt. Die angeblich selbstläuferische Fortschreitung von Fallzahlen kann korrigiert werden, China hat das gezeigt.

Nun argumentieren wir als freie Gesellschaft stets mit dem Prinzip der Selbstverantwortung. Sie kommt aber derzeit an Grenzen, weil auch das sonnigste Gemüt nicht mehr ausschließen kann, dass seine als banal empfundene Erkältung nicht doch auf eine Infektion mit dem Coronavirus zurückgeht. Ebenso weiß niemand, wie viele Virusträger ihm in den vergangenen Tagen zufällig nahegekommen sind, es sei denn, er hat sich eingegraben.

Nun haben sich viele Länder auf ein Publikumslimit von 1000 Menschen geeinigt. Die Schweiz hat es durchgesetzt, Frankreich und Deutschland nun auch. Die Begrenzung wirkt wie ein freundlicher Kompromiss, weil das öffentliche Leben nicht zum Stillstand kommen soll. Trotzdem ist die Höhe der Limitierung aus medizinischer Sicht willkürlich und auch nicht klug. Je mehr Menschen an einem Hotspot zusammenkommen, desto wahrscheinlicher ist die Gefahr einer Infektion. Frank Ulrich Montgomery, der Präsident des Weltärztebundes, hat dieser Tage sein Befremden über diese Grenzziehung geäußert.

Lars Schaade, Vizepräsident des Robert-Koch-Instituts (RKI), hat jetzt auf subtile Weise nachgeschoben: Die Menschen müssten sich auch überlegen, ob sie kleinere Veranstaltungen etwa in Gaststätten oder im privaten Bereich noch besuchen wollten, insbesondere wenn es dort noch enger oder schlechter belüftet sei. „Wir müssen Abstand zwischen die Menschen bringen, damit es nicht zu Übertragungen kommt.“

1000 Menschen – das ist auch deshalb so unsinnig, weil im Fall der Infektion eines einzelnen Besuchers die Kontaktpersonen, die in die Quarantäne gehören, kaum zu ermitteln sein werden. Bei 100 Menschen ginge das noch, obwohl unsere Gesundheitsämter schon jetzt mit der Nachverfolgung nur noch mühsam hinterherkommen. Doch wenn ein ganzer Konzertsaal mit 999 Zuhörern hinterher in Quarantäne geschickt werden müsste, weil alle in der Pause durcheinander flaniert sind und hinterher ein Hörer Sars-CoV-2-positiv ist: Das ist eine irreale Vorstellung.

Die Grenze bei 1000 – sie scheint allenfalls kosmetisch gewählt, um unseren Staat funktionstüchtig erscheinen zu lassen. Andersherum wäre es klüger: Damit der Staat funktionstüchtig bleibt, sollten wir nicht nur ein bisschen auf die Bremse treten. Italien hat viel zu spät reagiert. Wir müssen klüger sein – damit aus dem gefürchteten exponentiellen Wachstum doch ein erträgliches lineares wird. Nach jetziger Hochrechnung beschert uns das letzte, das 64. Schachfeld eine Katastrophe.

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