Wahrlich, keine Sternstunde

Meinung · Die Presse- und Meinungsfreiheit ist das Lebenselixier einer offenen Gesellschaft. Guter Journalismus kann ein Land oder ein System stabilisieren, schlechter Journalismus kann das Gegenteil bewirken. Immer öfter häufen sich nun die Anzeichen, dass Journalismus neu interpretiert wird - und die Grenzen der Meinungsfreiheit ausgetestet werden

Die Presse- und Meinungsfreiheit ist das Lebenselixier einer offenen Gesellschaft. Guter Journalismus kann ein Land oder ein System stabilisieren, schlechter Journalismus kann das Gegenteil bewirken. Immer öfter häufen sich nun die Anzeichen, dass Journalismus neu interpretiert wird - und die Grenzen der Meinungsfreiheit ausgetestet werden.Der Fall des "Stern", der den FDP-Fraktionsvorsitzenden Rainer Brüderle jetzt als Lustgreis an den Pranger stellt, ist nur ein Beispiel für diesen Trend. Ob in elektronischen Medien oder in Printmedien: Immer öfter werden Grundsätze über Bord geworfen, bisher gültige Kriterien aufgeweicht, fallen eherne Tabus wie Dominosteine. Eine neue Generation von Journalisten, aufgewachsen in einem freiheitlichen politischen System mit dem grenzenlosen Internet, kennt scheinbar keine Hemmungen mehr. Das ist etwa an der "Bild"-Zeitung zu beobachten, die auf der einen Seite ihr "Herz für Kinder" entdeckt, auf der anderen Seite ungeniert Dschungel-Gülle und Pornografie präsentiert. Das gilt für die Privatsender, die den Star- und Jugendkult pflegen, und durch jedes Schlüsselloch linsen. Und es gilt für den "Stern", der den "alltäglichen Sexismus" beklagt. Was für eine Heuchelei: Ausgerechnet jene, die permanent mit grellem Sex Auflage machen, schüren die Erregung über angeblichen Sexismus.

Es ist richtig: Die Politik macht, wie jeder andere Lebensbereich, keinen Bogen um die Macho-Welt sexueller Anmache. Auch Damen testen umgekehrt zuweilen ihre Reize aus - was einem natürlichen Verhalten von Menschen übrigens ziemlich nahe kommt. Mehr als grenzwertig ist es aber, ein ganzes Jahr nach einem weinseligen Abend an der Hotelbar solche Vorwürfe aus dem Köcher zu ziehen. Wahrlich keine Sternstunde des Journalismus.

Vor Jahresfrist haben die Medien in Deutschland einen Bundespräsidenten zur Strecke gebracht, es ging um einen Hauskredit, um Bobbycars und Hotelrechnungen. Nun, da die Staatsanwaltschaft keine strafbaren Tatbestände ermitteln konnte, schweigen die Jäger von einst. Jetzt arbeiten sie sich beim Aufpumpen von Petitessen an SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück ab. Oder eben an Brüderle, der mit seinen 67 Jahren, wie es beim "Stern" heißt, "aus der Zeit gefallen" sei. Welch ein Verständnis von Anstand und Moral: Soll das etwa heißen, bei einem knackigen Jungpolitiker wäre alles halb so schlimm gewesen?

Es wird Zeit, dass sich die Journalisten bei ihren vielen Medientagen mal wieder mit ihrem Selbstverständnis beschäftigen. Wir kennen die Missstände des britischen Gossen-Journalismus, der sogar zu kriminellen Auswüchsen geführt hat. Wenn sich die Tendenz zur Skandalisierung fortsetzt, droht auch der deutsche Journalismus (noch weiter) abzugleiten.

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