Analyse Die Ergebnisse der Regionalwahlen haben den Traum vieler Schotten von der Unabhängigkeit beflügelt. Das Vereinigte Königreich zeigt Auflösungserscheinungen. Schotten sorgen für Unruhe in London

London · Die Ergebnisse der Regionalwahlen haben den Traum vieler Schotten von der Unabhängigkeit beflügelt. Das Vereinigte Königreich zeigt Auflösungserscheinungen.

 Nicola Sturgeon, Regierungschefin von Schottland und Vorsitzende der Scottish National Party (SNP), hat einen deutlichen Sieg bei den Regionalwahlen erreicht.

Nicola Sturgeon, Regierungschefin von Schottland und Vorsitzende der Scottish National Party (SNP), hat einen deutlichen Sieg bei den Regionalwahlen erreicht.

Foto: dpa/Jane Barlow

Boris Johnson erteilte den Schotten bereits eine Absage, da waren noch nicht einmal alle Stimmen der Regionalwahl ausgezählt. Durch seine Hauszeitung Daily Telegraph ließ der britische Premierminister am Samstag verlauten, dass ein erneutes Unabhängigkeitsreferendum „unverantwortlich und rücksichtlos“ sei. Doch in der Downing Street scheint Panik zu herrschen, nachdem die Schottische Nationalpartei SNP im nördlichen Landesteil abermals deutlich gewonnen hat. Nicht anders ist zu erklären, dass Johnson nach Bekanntgabe der Ergebnisse in einem Brief an die Erste Ministerin Nicola Sturgeon versöhnliche Worte anschlug. Den Interessen der Menschen im Vereinigten Königreich und besonders der Menschen in Schottland wäre am besten geholfen, „wenn wir zusammenarbeiten“. Der Nutzen dieser Kooperation habe sich besonders in der Corona-Pandemie gezeigt. „Das ist Team Vereinigtes Königreich in Aktion“, schrieb der konservative Regierungschef.

Doch Sturgeon zeigt wenig Interesse an Teamarbeit. Im Gegenteil. Die SNP-Vorsitzende dürfte kaum abzubringen sein von ihrem Plan, Schottland mit einem Scexit als eigenständiges Land aus der 314 Jahre währenden Union zu führen. Zwar verpasste die SNP mit 64 der insgesamt 129 Sitze die absolute Mehrheit um einen Sitz. Gemeinsam mit den Grünen aber, die ebenfalls die Loslösung vom Königreich fordern und eine Rückkehr in die EU wünschen, bilden die Separatisten eine Mehrheit im Parlament in Edinburgh. In ihrer Siegesrede warnte Sturgeon den britischen Premier davor, den „Willen des schottischen Volks“ zu ignorieren. „Angesichts dieses Ergebnisses gibt es keine demokratische Rechtfertigung für Boris Johnson oder irgendjemand anderen, das Recht der schottischen Bevölkerung, unsere Zukunft selbst zu wählen, zu blockieren.“

Die Erste Ministerin ist beflügelt vom Erfolg, steht jedoch vor hohen Hürden. Denn ein Referendum zu verlangen ist nicht dasselbe, wie eines zu bekommen. Ohne Zustimmung aus London, so Experten, wäre ein Votum nicht rechtens. Könnte die SNP notfalls vor den Obersten Gerichtshof ziehen? Sollte London ein Referendum ablehnen, wäre das der Beweis dafür, dass die Regierung in Westminster das Königreich „erstaunlicherweise nicht mehr als freiwillige Union der Nationen betrachtet“, sagte die SNP-Vorsitzende. Tatsächlich wächst der Druck auf den Premierminister, denn ein bloßes Nein wird sich nicht ewig aufrechterhalten lassen. Es würde vielmehr den Unabhängigkeitstraum zahlreicher Schotten weiter befeuern.

Der Brexit hat das Thema zurückgebracht, nachdem beim ersten Referendum 2014 noch eine Mehrheit der Schotten gegen die Abspaltung vom Königreich gestimmt hat. Bei der Abstimmung um Großbritanniens Mitgliedschaft in der EU 2016 votierten die meisten Menschen in dem nördlichen Landesteil für den Verbleib in der Staatengemeinschaft – und wurden „gegen ihren Willen aus der EU gezerrt“, wie Sturgeon betont. Auf ein Neues also. 

An anderer Front hat Johnson aber gerade viel zu feiern. Bei den Kommunalwahlen in England schnitten die Tories historisch stark ab, Labour erlitt bittere Niederlagen.  Die Skandale und Affären der jüngsten Vergangenheit um Boris Johnson konnten dem Premier in England nichts anhaben. Hier halten sie ihm zugute, dass er den Brexit durchgesetzt und das Impfprogramm schneller auf den Weg gebracht hat, als dies in vielen Ländern auf dem Kontinent der Fall war. Immerhin – in Manchester wie auch in London wurden die Labour-Politiker Andy Burnham und Sadiq Khan als Bürgermeister wiedergewählt. Auch in Wales dominiert weiterhin Labour.

Die Wahlen am Donnerstag waren ein Stimmungstest, der eines offenbarte: Das tief gespaltene Großbritannien zeigt Auflösungserscheinungen.

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