Wahlen in Belgien Belgien vor grüner Welle und einem Rechtsruck

Brüssel · Eigentlich ist Belgien in den vergangenen sechs Monaten ganz gut über die Runden gekommen. Dass die Regierung des liberalen Ministerpräsidenten Charles Michel (43) seit Dezember nur noch geschäftsführend im Amt war, fiel nicht weiter auf.

Damals hatten die flämischen Nationalisten von der N-VA aus Verärgerung über den Migrationspakt der UN den Kabinettstisch verlassen – Michel verzichtete auf eine Minderheitsregierung und vorgezogene Neuwahlen. Irgendwie rettete man sich über die Zeit bis zum kommenden Sonntag, den turnusmäßigen Wahltermin. 8,2 Millionen Wahlberechtigte bestimmen dann – abgesehen von der kommunalen Ebene – die komplette politische Führung des Landes und ihre EU-Abgeordneten neu. Dabei interessieren die 21 Sitze, die belgische Politiker im neuen Europäischen Parlament einnehmen werden, kaum. Das Augenmerk richtet sich auf die föderale Ebene sowie die Regionen und Sprachgemeinschaften, die alle über eigene Volksvertretungen verfügen. Dann dürfte auch ein bislang einzigartiges Experiment vorbei sein, das die landeseigenen Medien „Schweden-Koalition“ getauft hatten: ein Regierungschef von den Liberalen, der einem bunten Haufen von flämischen Nationalisten, Christdemokraten und Liberalen vorstand. Das Bündnis war ein eklatanter Verfassungsbruch, weil eigentlich immer gleich viele Parteien aus dem wallonischen und dem flämischen Landesteil an der Regierung beteiligt sein müssen. Doch seit 2014 waren die frankophonen Wallonen nur durch die liberale MR-Partei Michels am Kabinettstisch vertreten. Nun könnte es anders werden. Vor allem den Grünen stehen offenbar erhebliche Zugewinne von zehn Prozent und mehr ins Haus. Die flämische N-VA dürfte erneut stärkste Kraft werden. Die Sozialisten erholen sich offenbar und könnten den Premierminister stellen. Im Gespräch sind Alt-Parteichef Elio du Rupo (67) oder Paul Magnette (47), der landesweit bekannt wurde, weil er vor Jahren als wallonischer Ministerpräsident das Ceta-Freihandelsabkommen der EU mit Kanada blockierte. Betroffenheit lösten allerdings bei vielen im Land erste Trends aus, nach denen der ultrarechte Vlaams Belang, der vor fünf Jahren weit abgeschlagen bei 5,8 Prozent landete, wieder zweistellig werden dürfte.

Das Land steht massiv unter Druck. Gravierende Sozialreformen stehen an. Vor allem eine Rentenreform, mit der ein Ruhestand erst ab 67 Jahren möglich sein soll, führt seit Wochen zu erbitterten Diskussionen. Ein weiteres Thema sind die Energiepreise. Immer mehr Menschen können ihre Stromrechnungen nicht bezahlen. Billige Energie wird händeringend gebraucht. Gleichzeitig drängen die meisten Parteien da­rauf, am vereinbarten Ausstieg aus der Kernkraft 2025 festzuhalten. Nun wird über Gas-Kraftwerke als Ausweg debattiert. Doch damit würden die Strompreise weiter steigen. Ein anderes Thema im Wahlkampf ist der Umgang mit Migranten, bei denen es sich vor allem um durchreisende Flüchtlinge handelt, die es eigentlich nach Großbritannien zieht. Erst Ende vergangener Woche wurden mehrere Lager am Brüsseler Nordbahnhof geräumt.

Dass Belgien zugleich über eine neue Staatsreform streitet, mit der das ohnehin stark regionalisierte Land (die „Bundesregierung“ hat schon jetzt nur noch Zuständigkeiten unter anderem für die Außen- und Sicherheitspolitik und das nationale Schienennetz) weiter umgebaut werden könnte, scheint dagegen kaum mehr als ein Nebenschauplatz zu sein. Die Hürden der Verfassung liegen zu hoch, als dass man in absehbarer Zeit den Staat reformieren könnte. Am Ende wird vermutlich wieder dem Mann eine Schlüsselrolle zukommen, der auch nach den letzten Wahlen ein Machtwort sprechen musste, ehe eine Regierung zustande kam: König Philippe (59). Auf ihn hört Belgien.

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