Vor dem Offenbarungseid

Der Streit um völlig überhöhte Abgaswerte von Diesel-Fahrzeugen ist noch lange nicht ausgestanden. Denn das Europäische Parlament hat gestern nur zähneknirschend eine Lösung akzeptiert, die einen bitteren Kompromiss zwischen technischer Machbarkeit und ökologischen Ambitionen darstellt.

Zwar sollen die Emissionswerte künftig im realen Fahrbetrieb ermittelt werden. Aber von den Autobauern zu verlangen, dass sie diese Werte binnen zwei Jahren auf das eigentlich längst festgeschriebene Niveau herunterschrauben - das hätte fast zwangsläufig das Aus für die Diesel-Technologie bedeutet.

Nun mag man ja der Meinung sein, dieser Preis für mehr Gesundheitsschutz wäre nicht zu hoch gewesen. Doch es geht eben auch um das große Ganze. Soll heißen: Die im Vergleich zu Benzinern CO{-2}-armen Selbstzünder werden für die Klimaschutz-Bilanz gebraucht. Damit das mühsam gezimmerte Konstrukt der Schadstoff-Auflagen nicht in sich zusammenfällt. Das nämlich wäre der Offenbarungseid für die Umweltpolitik der EU. Sie müsste dann zugeben, dass das Konzept der Emissions-Grenzwerte schon immer eine Illusion war und mit der Feinstaub-Realität auf unseren Straßen wenig zu tun hat.

Für Brüssel kommen die Abgas-Enthüllungen zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt. Europa hatte geglaubt, eine weltweite Führungsrolle im Umweltschutz einnehmen zu können. Stattdessen erfahren die Bürger von getürkten Öko-Werten von Leuchtmitteln, von veralteten Vorgaben für Umwelt-Label auf Elektrogeräten und eben von praxisfernen Abgaswerten ihrer Fahrzeuge. Die Verbraucher, denen man die Glühbirne verboten und vom Staubsauger bis zum Fernseher alles neu reguliert hat, fühlen sich getäuscht. Die jetzt beschlossene neue Methode der Abgasmessung ist deshalb ein Schritt in Richtung Transparenz. Er ist dringend nötig, weil die Bürger genug haben von Tricks, Kniffen und Software-Manipulationen. Insofern bleibt der gestrige Parlamentsbeschluss akzeptabel - aber sicher nicht mehr.

Die EU braucht einen Neustart in Sachen Klimaschutz . Die Zeiten, in denen Hersteller, Behörden und Politik eine "grüne" Fassade errichteten, müssen zu Ende sein. Sonst geht im Kampf für die Umwelt der wichtigste Verbündete verloren: der Kunde. In Brüssel wie in den Mitgliedstaaten der EU muss ein Umdenken stattfinden, das vor allem auf Ehrlichkeit und Transparenz zielt. Doch es geht um viel mehr: Klimaschutz ist auch ein Vorteil am Markt. Die jüngsten Enthüllungen allerdings haben den Glauben an deutsche und europäische Hersteller erschüttert. Deshalb kämpft die Wirtschaft längst nicht mehr nur um das Vertrauen der Käufer, sondern auch um ihre Reputation. Das sollte Anreiz genug sein, um auf Tricksereien zu verzichten und ehrgeizig neue Grenzwerte zu schaffen.

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