Vor 25 Jahren, am 6. April 1994, eskalierten alte Konflikte in einem Genozid, dem innerhalb von 100 Tagen eine Million Menschen zum Opfer fielen. Als in Ruanda über Nacht das große Töten begann
Bonn/Kigali · Der weiße Gebäudekomplex des „Genocide Memorial Center“ liegt an einem der vielen Hänge von Ruandas Hauptstadt Kigali. Unter großen Betondeckeln liegen dort die Überreste von mehr als 250 000 Menschen begraben.
Marmortafeln mit endlosen Namenskolonnen weisen auf das Ausmaß des Völkermordes von 1994 hin, dem innerhalb von 100 Tagen rund eine Million Menschen in Ruanda zum Opfer gefallen sind. In diesen Tagen gedenkt das Land der nationalen Tragödie, in Kigali suchen seit gestern Vertreter aus Politik, Gesellschaft und Wissenschaft auf einer internationalen Konferenz nach Möglichkeiten zur Genozidprävention.
Als Auslöser der Kämpfe von 1994 gilt der bis heute ungeklärte Abschuss des Flugzeugs des autoritären Präsidenten Juvénal Habyarimana am 6. April 1994. Noch in der selben Nacht begann das Morden. Hutu-Kämpfer töteten, verstümmelten und vergewaltigten ihre Nachbarn, Freunde, Fremde und sogar Ehepartner und Kinder. Die Opfer waren vorwiegend Angehörige der Bevölkerungsschicht der Tutsi, aber auch gemäßigte Hutu. Angezettelt wurde das Schlachten von der damaligen Regierung und einer regierungsnahen paramilitärischen Organisation.
Die Grundlage des Konflikts haben bereits die früheren Kolonialmächte Deutschland und Belgien gelegt. Ruanda war bis zum Ende des Ersten Weltkriegs deutsche, anschließend belgische Kolonie. Beide Nationen etablierten die Tutsi-Minderheit, die sich als Krieger und Viehzüchter profiliert hatte, als herrschende Klasse. Es entstand eine soziale Schieflage zu den vorwiegend von Landwirtschaft lebenden Hutu, die mit 90 Prozent den größten Teil der Bevölkerungsgruppe stellten.
Wegen der unüberbrückbaren ethnischen Spannungen kam es nie zu einer Identität als gemeinsames Staatsvolk, obwohl beide Gruppen dieselbe Sprache sprechen und Jahrhunderte friedlich zusammengelebt hatten. Immer wieder kam es zu Auseinandersetzungen. Vor allem die sogenannte erste Republik in Ruanda (1962-1973) wurde von Mordwellen an Tutsi, Flucht und Vertreibung geprägt. Im Gedächtnis der Hutu wiederum blieb das Tutsi-Massaker von 1972 an den Hutu im Nachbarland Burundi haften.
Der Völkermord von 1994 war vorbereitet: Radiosender verbreiteten Hassparolen, Macheten wurden gehortet, Milizen gegründet. Rund 2500 UN-Blauhelme sahen dem Gemetzel tatenlos zu und wurden nach zehn Tagen abgezogen – ein großes Versagen der Weltgemeinschaft. Erst der Einmarsch von Exil-Tutsis der Ruandischen Patriotischen Front unter dem heutigen Staatspräsidenten Paul Kagame beendete die Massaker.
Der damalige US-Präsident Bill Clinton hat sich mehrfach für die Passivität der USA während des Genozids entschuldigt. Kofi Annan, späterer UN-Generalsekretär, brauchte Jahre, um als damaliger Verantwortlicher für die UN-Mission in Ruanda zumindest einen Teil der Verantwortung zu übernehmen.
Für die Aufarbeitung wählte Ruanda den Weg sogenannter Gacaca-Gerichte – Laiengerichte, vor denen sich die Täter im Beisein der ganzen Dorfgemeinschaft verantworten mussten. Bis 2012 wurden fast zwei Millionen Fälle verhandelt, 65 Prozent der Angeklagten verurteilt.
Mit etlichen Programmen treibt der Staat unter Präsident Kagame die Versöhnung voran. „Die Versöhnungsarbeit im Land, die so viele Menschen mit einschließt, hat sehr früh begonnen“, sagt Hans Bretschneider, der für die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit die Arbeit des Zivilen Friedensdienstes in Ruanda koordiniert. Die Befriedung hat aber auch ihren Preis: Menschenrechtsorganisationen werfen Kagame vor, Ruanda in einen autoritären Staat zu verwandeln.