Vom schweren Erinnern

Meinung · Offizielles Gedenken gerät oft steif und bleibt in staatstragender Blässe. Gestern war es anders. Marcel Reich-Ranicki schilderte im Bundestag mit brüchiger Stimme, wie wir Deutsche Tod und Vernichtung über ihn, seine Familie und Millionen Juden brachten. Seine Worte bewegten und berührten. Das Erinnern an den Holocaust bekam eine Intensität, wie sie wohl nur Zeitzeugen vermitteln können

Offizielles Gedenken gerät oft steif und bleibt in staatstragender Blässe. Gestern war es anders. Marcel Reich-Ranicki schilderte im Bundestag mit brüchiger Stimme, wie wir Deutsche Tod und Vernichtung über ihn, seine Familie und Millionen Juden brachten. Seine Worte bewegten und berührten. Das Erinnern an den Holocaust bekam eine Intensität, wie sie wohl nur Zeitzeugen vermitteln können.Die Schilderungen der Überlebenden haben einen großen Vorteil gegenüber jedem Geschichtsbuch: Sie erreichen viel leichter die Herzen der Menschen. Doch es werden immer weniger, die authentisch Zeugnis von den Menschheitsverbrechen ablegen können. Der Tag ist absehbar, dass niemand mehr lebt, der von Auschwitz als Augenzeuge erzählen kann. Die so bewegenden Schulbesuche von Zeitzeugen wird es bald nicht mehr geben.

Umso schwieriger wird die Erinnerung. Die ja immer schon schwer war. "Es ist nicht leicht oder angenehm, in diesem Abgrund des Bösen zu graben. Man ist versucht, sich erschaudert abzuwenden und sich zu weigern, zu sehen und zu hören: Das ist eine Versuchung, der man widerstehen muss", schrieb der Auschwitz-Überlebende Primo Levi. Einer aktuellen Umfrage zufolge würden mehr als die Hälfte der Deutschen am liebsten einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen. Und ein Fünftel der 18- bis 29-Jährigen kann mit dem Wort "Auschwitz" nichts verbinden.

Wir brauchen eine veränderte Kultur des Erinnerns, die notgedrungen ohne die - im Grunde unersetzlichen - Zeitzeugen auskommt. Wir müssen etwas aufbauen, das mehr leistet, als es Geschichtsbücher können. Berichte, Dokumente und alte Filme reichen nicht aus. Besonders in den Schulen braucht es Ideen, so an den Holocaust zu erinnern, dass junge Menschen davon im Innersten berührt sind. Vielleicht können die Forschungseinrichtungen an den ehemaligen Stätten des Grauens, den Konzentrationslagern, dabei helfen.

Wenn die Erinnerungskultur misslingt, besteht die Gefahr, dass die Vernichtung im Namen der braunen Ideologie zu einem bloßen Kapitel deutscher Geschichte schrumpft. Die Folge wäre - über kurz oder lang - zumindest Gleichgültigkeit, wenn nicht gar Vergessen.

Geschichtsvergessenheit wäre eine Verantwortungslosigkeit angesichts der Millionen Opfer. Mehr noch: Vergessen ist gefährlich. Dass Terroristen jahrelang wieder im Namen der nationalsozialistischen Weltanschauung morden konnten, sollte eine Warnung sein. Eine aus Erinnern genährte Wachsamkeit hätte vielleicht geholfen, früher zu vermuten, welch ein Ungeist die Täter antrieb. Die Gefahren, die von rechts drohen, sind nicht zu unterschätzen.

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