Verlorene Jahre

Meinung · Alle waren wir dabei, als die verblendeten Schergen des Terrorpaten Osama bin Laden vor zehn Jahren einen strahlend-blauen Septembertag in einen apokalyptischen Albtraum verwandelten. Jeder kann sich genau erinnern, wo und wie er vom Einsturz der Zwillingstürme des World Trade Centers erfuhr. Um die mehr als 3000 Unschuldigen des 11. September trauern wir wie um gute Nachbarn

Alle waren wir dabei, als die verblendeten Schergen des Terrorpaten Osama bin Laden vor zehn Jahren einen strahlend-blauen Septembertag in einen apokalyptischen Albtraum verwandelten. Jeder kann sich genau erinnern, wo und wie er vom Einsturz der Zwillingstürme des World Trade Centers erfuhr. Um die mehr als 3000 Unschuldigen des 11. September trauern wir wie um gute Nachbarn. Unsere Sympathie mit den Opfern ist so universal wie die Abscheu über die Motive der Drahtzieher, denen nicht einmal ihre eigene Religion heilig war.Seit diesem historischen Tag ist alles anders als zuvor. Wir sind ängstlicher geworden. Hegen schneller Verdacht gegen Fremde und Fremdes. Haben kostbare Freiheiten aufgegeben in der Hoffnung, mehr Sicherheit zu gewinnen. Al Qaida, das Netzwerk des Todes, verkehrte das Potenzial der Globalisierung ins Gegenteil.

Nichts gibt es, was diese sinnlose Orgie der Gewalt nur im Entferntesten rechtfertigen könnte. Auch al Qaida ist mit dem Versuch einer Erklärung kläglich gescheitert. Inzwischen liegen die sterblichen Überreste des Chefterroristen in der Arabischen See. Seine Organisation ist dezimiert und ideologisch am Ende. Vollkommen ignoriert von den Menschen in Tunesien, Ägypten und Libyen, die im "arabischen Frühling" ihre Diktatoren nicht mit den Parolen al Qaidas, sondern mit dem Ruf nach Gerechtigkeit stürzten.

Auch zehn Jahre nach dem 11. September lässt sich nur mühsam Bilanz ziehen. Gewiss, die Terroristen haben verloren - aber der Westen hat nicht gewonnen. Vielmehr blicken wir auf eine Dekade verpasster Chancen zurück. Verschenkte Jahre, die mit falschen Weichenstellungen begannen. Statt die enorme Hilfsbereitschaft und den neuen Gemeinschaftsgeist zu nutzen, um Amerika und die Welt zusammenzubringen, wollte der damalige US-Präsident George W. Bush alle unter seine Knute zwingen. Für das globale Wir-Gefühl gab es in seiner polarisierenden Politik der Alleingänge keinen Platz.

Im Inneren verwandelte Bush die USA in eine Schutz- und Trutzburg mit enormem Sicherheitsapparat, der heute rund 1200 Regierungs-Organisationen und 1900 Vertragsfirmen mit mehr als 850 000 Beschäftigten umfasst. Der bigotte Texaner schränkte Freiheitsrechte ein, auf die Amerika ursprünglich so stolz war. Er schuf den Schandfleck Guantanamo, in dem die Werte der Demokratie und Zivilisation genauso mit Füßen getreten wurden wie in den Kerkern arabischer Despoten.

Bush gab mit dem "globalen Krieg gegen den Terror" nicht nur eine eindimensionale Antwort, sondern auch eine falsche. Nachdem er Osama bin Laden in den afghanischen Bergen entkommen ließ, nahm er Saddam Hussein ins Visier. Die Invasion im Irak schadete den USA aber mehr als der Terror von al Qaida. Sie kostete eine weit größere Zahl an Menschenleben als die Attentate des 11. September, häufte einen immensen Schuldenberg auf und machte den Gottesstaat Iran obendrein zu einer Hegemonialmacht.

Mit der Wahl des ersten schwarzen Präsidenten und "amerikanischen Weltbürgers" Barack Hussein Obama versuchten die USA vor zwei Jahren eine Selbstkorrektur, die nur teilweise glückte. Der Nobelpreisträger beendete den Krieg im Irak und stoppte die Irrwege, die zu Folter, Entführungen und Geheimgefängnissen des Geheimdienstes CIA führten. Er erneuerte die transatlantische Allianz und verbesserte das Verhältnis zur muslimischen Welt. Vor allem verknüpfte Obama den amerikanischen Traum wieder mit dem Wir-Gefühl, das zwar nicht alle, aber viele Einwohnern des globalen Dorfs teilen. Während am zehnten Jahrestag an Ground Zero neue Wolkenkratzer aus der klaffenden Wunde in den Himmel wachsen und viele Angehörige der Opfer so beeindruckend etwas Gutes aus der Katastrophe gemacht haben, kommt die Supermacht USA nicht auf die Beine. Geschwächt weniger durch den Terror als vielmehr durch das schwere Erbe einer überforderten politischen Führung, die den 11. September nicht zu deuten verstand. Das ist neben dem sinnlosen Sterben die eigentliche Tragik eines verlorenen Jahrzehnts.

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