Verhältnis mit Modellcharakter

Im Sommer könnte die Visa-Pflicht für die Türkei fallen, und die Empörung darüber ist groß. Viele wollen Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan den Erfolg nicht gönnen. Diesem Oberbefehlshaber einer gelenkten Demokratie, der mit Kritik im In- und Ausland nicht umgehen kann. Der die Kurden und die Opposition schlecht behandelt. Der jetzt offenbar auch noch seinen Nachfolger an der Spitze von Partei und Regierung, Ministerpräsident Ahmed Davutoglu, aus dem Amt drängt.

Doch viele, die sich ablehnend zu Wort melden, vermischen die Dinge. Es werden Vorurteile gegenüber Türken bedient und Ängste vor Zuwanderung aus Anatolien geschürt. Die Türkei hat etwa 75 Millionen Einwohner. Nur ein Zehntel davon verfügt über einen Reisepass, der Voraussetzung ist für eine Einreise in die EU. Reisedokumente haben in der Türkei vor allem Geschäftsleute. Bei ihnen muss man aber nicht unbedingt davon ausgehen, dass sie als Migranten in der EU auftauchen und die Sozialsysteme belasten.

Nicht vergessen: Die EU ist bei der Türkei im Wort. Schon seit Jahren verhandeln beide Seiten über Visa-Erleichterungen. Und wie es aussieht, schaffen es EU und Türkei gemeinsam, den Menschenhändlern in der Ägäis das Handwerk zu legen. Im Gegenzug hat Europa zugesagt, Visa-Erleichterungen wohlwollend zu prüfen. Wohl gemerkt: Es wird geprüft, ob Ankara den Katalog von 72 Kriterien abarbeitet. Es geht also nicht um einen Gnadenakt der EU.

Hinter dem europäischen Grummeln über die Visa-Liberalisierung steckt mehr. Es geht dabei auch um die künftige Ausrichtung der EU. Nach etlichen Erweiterungsrunden wirkt die Gemeinschaft der 28 erschöpft. Das alte Mantra, noch mehr Länder aufzunehmen und noch mehr Kompetenzen nach Brüssel zu geben, funktioniert nicht mehr. Die EU steckt in der Sinnkrise. Dabei können die Beziehungen zwischen Ankara und Brüssel auch Orientierung geben. Der Zug für die Aufnahme der Türkei in der EU ist zwar abgefahren. Aber Flüchtlingsdeal und Visa-Frage zeigen, dass es sich lohnt, wenn Türkei und EU miteinander reden. Beide Seiten profitieren davon, auch wenn es schwierig ist. Man muss es anerkennen: Zumindest auf dem Papier, bei den Gesetzen, die in der Türkei verabschiedet werden, gibt es auch handfeste Verbesserungen bei den Menschenrechten. Die Fortschritte mögen nicht alle zufriedenstellen, sie sind aber da. Früher nannte man so ein Verhältnis privilegierte Partnerschaft.

Auch die Ukraine und Marokko klopfen an die Tür der EU, pochen auf Mitsprache. Alle wissen: An eine EU-Mitgliedschaft ist in absehbarer Zeit nicht zu denken. Wohl aber an ein Verhältnis wie zwischen guten Nachbarn. Was EU und Türkei gerade einüben, hat dafür Modellcharakter. Die Hand über den Gartenzaun hinweg darf nicht zurückgewiesen werden.

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