Urteil in Schwarz-Weiß

Die Rollen sind klar verteilt, am Anfang. Hier die tapfere Studentin Tugce, die in einem Streit unter Jugendlichen unerschrocken Hilfe leistet. Da der arbeitslose Rabauke Sanel, der einfach zuschlägt.

Und dann abhaut. Böser Bube und gute Fee, Schwarz und Weiß - ein gefundenes Fressen nicht nur für die Boulevard-Medien, aber besonders für die. Die Geschichte von Tugce, dem sterbenden "Engel", rührt die Republik. Doch die Welt ist oft komplizierter, als wir sie gern hätten. Auch in diesem Fall. Der Prozess am Darmstädter Landgericht hat in den vergangenen Monaten manches überzeichnete Bild sauber wegradiert. Am (vorläufigen) Ende steht nun ein Urteil, das Fragen offen lässt.

So alltäglich hatte die Geschichte begonnen, zigtausendfach passiert es überall auf der Welt: Zwei junge Leute geraten in Streit, es ist Alkohol im Spiel, und weil sich jeder der beiden von seiner Clique bestärkt fühlt, schaukelt sich die Sache ruckzuck hoch. Es geht weniger um Argumente als um derbe Worte und Beleidigungen, da schenken sie sich nichts. Dann schlägt einer zu. In dieser Sekunde wandelt sich der nächtliche Zoff unter allzu aufgekratzten Jugendlichen in eine Tragödie.

Es steht außer Frage: Der Schlag des Angeklagten Sanel M. ist durch nichts zu rechtfertigen. Aber ein vorsätzlicher Angriff auf das Leben seiner Kontrahentin war er nicht. Tugces tödlicher Sturz war vor allem ein furchtbarer Unfall, eine Verkettung vieler unglücklicher Zufälle. Dass der - auch einschlägig - vorbestrafte Täter dafür Verantwortung trägt und sein Leben lang tragen wird, das erscheint unstrittig. Der gestrige Spruch des Landgerichts ist jedoch anders zu lesen: Zwar betont der Richter, Sanel M. habe Tugces Tod nicht beabsichtigt. Doch das verhängte Strafmaß verschiebt die Wertung deutlich weg von der Verantwortung, hin zur Schuld. Womöglich war es auch die vielzitierte "Wucht" der öffentlichen Meinung, die da mitgeschoben hat. Es ist kein mildes Urteil. Es ist eines, das mehr in Schwarz und Weiß zeichnet als in den Graustufen, die der Prozess entstehen ließ.

Den Schmerz der Eltern, der Familie, der Freunde von Tugce kann das nicht lindern; sie alle bleiben Opfer, lebenslang. All jene aber, die eine wehrhafte Studentin etwas voreilig zur Ikone stilisiert hatten, mögen sich nun wieder versöhnt fühlen. Bei allen Zweifeln am Darmstädter Urteil: Vielleicht liegt genau darin auch eine Chance. Denn Tugces Schicksal hat nicht nur kollektive Anteilnahme erzeugt, sondern auch die Debatte über unser Nebeneinander und Miteinander neu angefacht. Einmischen, nicht wegschauen - ja bitte. Aber dazu gehört eben nicht nur Mut, sondern auch eine Portion Besonnenheit. Es könnte die späte Lehre aus einer verhängnisvollen Nacht sein.

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