Unharmonische Gesellschaft

Meinung · Chinas Kampagne gegen die Vergabe des Friedensnobelpreises an den inhaftierten Demokratieaktivisten Liu Xiaobo hat ihren Höhepunkt erreicht. Erstmals seit 1935, als der von den Nazis eingesperrte Pazifist Carl von Ossietzky von der Verleihung ferngehalten wurde, kann die Auszeichnung heute weder dem Preisträger noch einem offiziellen Vertreter überreicht werden

Chinas Kampagne gegen die Vergabe des Friedensnobelpreises an den inhaftierten Demokratieaktivisten Liu Xiaobo hat ihren Höhepunkt erreicht. Erstmals seit 1935, als der von den Nazis eingesperrte Pazifist Carl von Ossietzky von der Verleihung ferngehalten wurde, kann die Auszeichnung heute weder dem Preisträger noch einem offiziellen Vertreter überreicht werden. Und 18 Länder, denen ihre Beziehungen zur Volksrepublik wichtiger sind als ein Bekenntnis zur Freiheit, haben ihre Teilnahme an der Preiszeremonie abgesagt.Dabei wird auch in China selbst längst im Sinne Lius darüber diskutiert, wie lange der chinesische Aufschwung noch weitergehen kann, ohne dass den wirtschaftlichen Reformen auch eine politische Erneuerung folgt. Jeden Tag ereignen sich über 250 sogenannte "Massenvorfälle", lokale Demonstrationen gegen Korruption und Arbeitsbedingungen. Sie zeigen, wie weit China von seinem Traum einer "harmonischen Gesellschaft" entfernt ist. Wie sich die gewaltigen sozialen Spannungen in den Griff bekommen lassen, gilt als Schicksalsfrage für Chinas Zukunft - und steht im Zentrum des Streits um Liu. Für ihn und seine Anhänger liefern die Gewaltausbrüche den Beweis für eine weit verbreitete Unzufriedenheit mit dem korrupten System der KP. Die Partei nimmt dagegen den wirtschaftlichen Aufschwung als Beleg, dass sie am besten geeignet sei, das riesige Land zu regieren. Parteichef Hu Jintao propagiert die "Parteiinterne Demokratie". Mit ihren über 70 Millionen Mitgliedern könne die KP alle gesellschaftlichen Entscheidungsprozesse abbilden. Es mangelt aber nicht an Reformvorschlägen. So veröffentlichten die Chefredakteure namhafter Staatsmedien im Oktober einen gemeinsamen Aufruf für mehr Pressefreiheit. Nur wenn die Medien offener über Korruption, Produktskandale oder Umweltverschmutzung berichten könnten, werde die Öffentlichkeit ihnen weiterhin Glauben schenken.

Die Partei steht unter Druck - und mauert. So liegen Pläne für eine Ausweitung der bestehenden lokalen Demokratie seit über zehn Jahren auf Eis. Auch Anzeichen von Gnade für Liu gibt es in Peking nicht - ebenso wenig wie Spuren von Einsicht, dass elf Jahre Gefängnis für das Verfassen eines Manifests auch nach eigenen Maßstäben drakonisch sind. Peking versucht den Nobelpreis als eine antichinesische Kampagne darzustellen und rettet sich in Repressionen gegen Lius Anhänger. Dass sie dabei genau in der Weise gegen ihre eigenen Gesetze verstößt, wie es ihr Liu vorwirft, ist bittere Ironie - und ein nachträglicher Beleg dafür, wie klug die Nobelpreisentscheidung war.

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